Theorie

[632] Theorie (gr. theôria), eig. Betrachtung, Beschauung, bezeichnet ursprünglich das Anschauen dessen, was nicht Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung ist, sodann allgemein die wissenschaftliche Erkenntnis und das Verständnis überhaupt. Die Theorie steht also im Gegensatz einerseits zu der Erfahrung (Empirie), andrerseits zu der Praxis. Sie strebt zunächst im Gegensatz zur Erfahrung danach, die einzelnen Beobachtungen des Empirikers unter allgemeine Gesetze zu bringen, welche nicht erfahren werden können, sondern durch Nachdenken gefunden werden müssen. So spricht man von einer Theorie des Empfindens, Denkens usw., von einer Theorie des Lichtes, der Bewegung, des Blutumlaufs, um anzudeuten, daß in gewisse Tatsachen der Psychologie, Physik, Physiologie usf. durch Aufstellung von Gesetzen Einheit, Zusammenhang und Klarheit gebracht werden kann. Jede Theorie beruht auf einem Grundgedanken (Prinzip), den aufzustellen selten dem Studium, meist der glücklichen Kombination gelingt. Fortwährend bedarf jede Theorie der Kontrolle durch die Erfahrung; solange sie mit dieser nicht vollständig stimmt, darf sie nur auf den Namen einer Hypothese Anspruch machen. Eine Theorie ist mehr oder weniger tief, je nachdem sie sich mit näheren Erklärungsgründen beruhigt oder bis zu den letzten Prinzipien emporsteigt; immerhin ist sie mehr oder weniger philosophisch. – Im Gegensatz zur Praxis (s. d.) bezeichnet Theorie die Erkenntnis an sich, ohne die Absicht, sie zu gewissen Zwecken zu verwenden. Weil diese Anwendung oft recht schwierig ist und nicht gelingen will, sagt man wohl, es sei etwas in der Theorie (in thesi) richtig, aber in der Praxis (in praxi) falsch. Kant (1724-1804) hat hierüber 1793 eine Abhandlung geschrieben, in der er die Verderblichkeit der Maxime, Theorie und Praxis zu trennen für Moral, Staats- und Völkerrecht nachweist. Und in der Tat, was theoretisch richtig ist, muß auch praktisch durchgeführt werden. Wo sich dies als unmöglich herausstellt, liegt es entweder an der Unvollständigkeit der Theorie, oder an der Ungesundheit der praktischen Verhältnisse, oder auch (und zwar meistens) an der Feigheit und Gleichgültigkeit der Menschen. – In der Philosophie hat das Begriffspaar theoretisch und praktisch aber noch den besonderen Sinn, daß jenes als ein Prädikat der Erkenntnis an sich gilt, die kein anderes Interesse, als das wissenschaftliche hat, praktisch dagegen diejenige Beurteilung der Dinge heißt, welche den[632] Wert oder Unwert der Dinge ins Auge faßt, ohne ihr Wesen und ihre Ursachen zu untersuchen. Die praktische Philosophie hat diejenigen Begriffe aufzustellen, welche den Maßstab für unser Wollen und Handeln abgeben, besonders auf juristischem, ethischem, religiösem und ästhetischem Gebiet. Die zwei Hauptwerke Kants würden daher mit ihrem vollen Titel lauten: Kritik der reinen theoretischen Vernunft und Kritik der reinen praktischen Vernunft, während die von Kant gewählten Titel einen schiefen Gegensatz bilden. – Die Ausdrücke theoretisch und praktisch erscheinen zuerst bei Aristoteles (384-322) als Gegensätze. Er unterscheidet die theoretische und praktische Vernunft (dianoia theôrêtikê – dianoia praktikê). Jene hat es mit der Erkenntnis der großen Welt und ihren ewigen Ordnungen, diese mit dem Wechsel und Wandel der menschlichen Dinge zu tun (Metaph, V, 1 p. 1025, b 25). In der neueren Philosophie hat Ch. Wolf (1679-1754) die Unterscheidung theoretischer und praktischer Philosophie durchgeführt und wie Aristoteles der Theorie den Vorzug gegeben (Logica § 92). Auch Kant (1724-1804) hält an dem Gegensatz fest, stellt aber die Lehre vom Primate der praktischen Vernunft über die theoretische auf und räumt damit den Intellektualismus (s. d.) des Altertums hinweg. Ihm folgt J. G. Fichte (1762-1814), dem die praktische Vernunft die Wurzel aller Vernunft ist. In der Geschichte der Ausdrücke liegt die Geschichte des tieferen Problems, »ob der Welterkenntnis oder dem sittlichen Handeln die Führung unseres Lebens und die Beherrschung unserer Überzeugungen gebühre« (Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 39 ff.) Vgl. Praxis, Voluntarismus.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 632-633.
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