Geschütze der Landartillerie

[252] Geschütze der Landartillerie. Die im Weltkriege vorherrschenden Stellungskämpfe mit ihren außerordentlich verstärkten Abwehrmitteln erheischten nicht nur Masseneinsatz von Artillerie und Munition, sondern veranlaßten auch eine Steigerung der Wirkung der Geschütze auf ein vorher unbekanntes Maß. Hiermit war ein erhebliches Anwachsen der Gewichte unvermeidlich verknüpft; darunter litt zunächst die Beweglichkeit. Während der reinen Stellungskämpfe konnte man sie vernachlässigen, als aber die Großangriffe zeigten, daß die Artillerie der Infanterie nicht rechtzeitig zu folgen vermochte, mußte man zu besonderen Mitteln greifen, um das entstandene Mißverhältnis zwischen Wirkung und Beweglichkeit auszugleichen.

Es Stellte sich bald heraus, daß als wesentlichste Mehrleistung der Geschütze größere Schußweite zu fordern war. War die Artillerie schon während des Bewegungskrieges im August und September 1914 gezwungen gewesen, den Kampf auf größeren Entfernungen zu führen, als man vorausgesetzt hatte, so wurde der Zwang hierzu während der Stellungskämpfe noch größer. Die dauernde feindliche Beobachtung der Stellungen und die Sicherung gegen Ueberraschungen machten, besonders im deckungsarmen Gelände, einen größeren Abstand von der Infanterielinie notwendig. Da der Feind ebenso verfuhr, so bedurfte es schon großer Schußweiten, um die gegnerische Artillerie zu erreichen, mehr noch, wenn es galt, Ziele in den rückwärtigen Verbindungen zu fassen. Die Zerstörung der stark ausgebauten Verteidigungsanlagen erforderte große Geschoßwucht und Sprengwirkung. Infolgedessen ist im Verlauf des Krieges eine dauernde Vergrößerung der Geschützkaliber, Steigerung der Anfangsgeschwindigkeit und Verbesserung der Geschosse zu beobachten. In Verbindung hiermit steht eine Verstärkung der Lafetten, die Konstruktion besonderer Bettungen und die umfangreiche Anwendung des Kraftzugs zum Fortschaffen der Geschütze. Die verdeckte Aufstellung wurde zur Regel und erforderte Ausgestaltung der Richt- und Beobachtungsmittel.

Galt vor dem Kriege der österreichische 30,5-cm-Mörser als größtes Kaliber der Landartillerie, so wurde er schon bei Kriegsanfang durch den deutschen 42-cm-Mörser überholt. Für Flachfeuergeschütze sah man vor dem Krieg 15 cm als das größte Kaliber an, das noch mit ausreichender Beweglichkeit beim Landherr mitgeführt werden konnte. Der Krieg schuf aber Flachbahnkanonen bis zu 38 cm und Steilfeuergeschütze bis zu 52 cm Kaliber (französische 52-cm-Haubitze), welche teils mittels Kraftzug, zum Teil als Eisenbahngeschütze verwendet wurden (s. Artilleriezugmaschinen und Eisenbahngeschütze). Vielfach wurden hierzu Geschütze der Küsten- und der Schiffsartillerie verwendet.

Um größere Schußweiten zu erreichen, ersetzte Deutschland die Feldkanone, die leichte Feldhaubitze, den Mörser (21 cm) und die 13-cm-Kanone durch die Feldkanone 16, die leichte Feldhaubitze 16, den langen Mörser und die 15-cm-Kanone 16, welche 1200 bis 1800 m größere Reichweite hatten als ihre entsprechenden Vorgänger. Hierzu war es notwendig, den Geschützrohren eine größere Länge zu geben; so erhielt die Feldkanone 16 L/35 (statt L/27 der Feldkanone 96 n/A), die leichte Feldhaubitze 16 L/22 (statt L/12 der bisherigen leichten Feldhaubitze).

Frankreich steigerte bei den Geschützen, deren Lafetten der größeren Beanspruchung gewachsen waren, die Treibladungen. – Während unsere Feinde die Zahl der schweren Langrohre außerordentlich vermehrten, waren die Mittelmächte in Rücklicht auf die Rohstofflage gezwungen, an Treibmitteln zu sparen und deshalb den Bau solcher Geschütze zugunsten von Steilfeuergeschützen hintenanzuhalten. Als besondere Leistung müssen die Ferngeschütze der Firma Krupp mit etwa 130 km größter Schußweite angesehen werden (s. Ferngeschütz).

Zur Vergrößerung der Schußweiten verbesserte man auch die Flugeigenschaften der Geschosse, indem man ihnen eine größere Länge im Verhältnis zum Querschnitt gab (Querschnittsbelastung),[252] die Spitze schärfer formte und vielfach den Bodenteil kegelförmig verjüngte (s. Kappengeschosse). Die größeren Anfangsgeschwindigkeiten hatten eine stärkere Beanspruchung der Geschoßführung – Führungsringe und Dralleinrichtung der Rohre – zur Folge. Dies, die weniger sorgfältige Massenherstellung der Geschosse und die starke Inanspruchnahme der Rohre durch das »Trommel–« oder das »Sperrfeuer« (bis zu 1000 Schuß je Geschütz leichten Kalibers innerhalb eines Tages) hatten häufige Rohrzerspringer und somit einen starken Verbrauch der Rohre zur Folge.

Zur Erhöhung der Wirkung verbesserte man die Feuergeschwindigkeit der Geschütze und die Leistungen der Geschosse. Die Flüssigkeitsbremsen, die Sender ebenso wie die Luftdruckvorholer haben die Kriegsprobe glänzend bestanden, die Einrichtung des veränderlichen Rohrrücklauf bei Steilfeuergeschützen hat sich bewährt; dagegen hat man bei Neukonstruktionen von dem Rohrvorlauf, der vor dem Krieg vielfach als aussichtsvoll betrachtet wurde, keinen Gebrauch gemacht.

Als sehr erwünscht und kriegsbrauchbar hat sich die unabhängige Richtlinie erwiesen. Die Nachteile, welche vor dem Krieg dem Schraubenverschluß nachgesagt wurden, haben sich nicht gezeigt. Von halbselbsttätigen Verschlüssen ist nur bei Fliegerabwehrkanonen Neugebrauch gemacht worden; der halbautomatische Verschluß der italienischen Feldkanone des Systems Deport scheint aber allen Anforderungen entsprochen zu haben.

Die Höhenrichtmaschinen der Flachfeuergeschütze hatten im Hinblick auf die Steigerung der Schußweiten vielfach ein zu geringes Ausmaß; die Seitenverschiebung der Lafette auf der Achse zum Nehmen der seinen Seitenrichtung hat sich als unzweckmäßig erwiesen.

Die optischen Richtmittel haben sich vortrefflich bewährt; die Mittel zum indirekten Nehmen der Seitenrichtung nach der Karte oder dem Plan genügten bei der Feldartillerie nicht, ebensowenig die Ausstattung mit Beobachtung- und Fernsprechgerät. Es Stellte sich als dringend notwendig heraus, den Richtinstrumenten der Feld- und der Fußartillerie eine einheitliche Teilung zu geben. Die große Empfindlichkeit der Fernsprechverbindungen und die schweren Schäden, welche aus ihrer Verletzung der Feuerleitung erwuchsen, lassen die weitere Ausbildung drahtloser Fernsprechverbindung sehr erwünscht erscheinen.

Hinsichtlich der Munition war die überraschendste Erfahrung der außerordentliche Munitionsverbrauch. Infolge des Mangels an Rohstoffen war es den Mittelmächten schwer, den Bedarf zu decken. Bei der Herstellung der Zünder, der Führungsringe der Geschosse und der Kartuschhülsen mußte zu Ersatzstoffen gegriffen werden. Zink, Papier und Eisen an Stelle von Aluminium, Kupfer und Messing spielten hierbei eine große Rolle; Führungsringe aus Papier erwiesen sich bei kleineren Kalibern als brauchbar; die stählernen Kartuschhülsen haben sich bestens bewährt.

Unter den Geschoßarten herrschte die Granate vor; besonders wirkungsvoll waren Granaten aus bestem Preßstahl mit hochexplosibler Granatfüllung und empfindlichem Zünder (s. S. 172). Die durch sie verursachten Verletzungen waren besonders schwer, vor allem auch infolge der Begleiterscheinungen (Wundstarrkrampf, Vergiftung). Daneben bewies die Granate ihre dem Schrapnell überlegene Wirkung auf die Nerven. Diese Nervenwirkung, welche im Frieden nicht zur Geltung gebracht werden kann, erwies sich als im hohen Grade ausschlaggebend. Die Sprengladungen in den Granaten wurden vielfach erheblich vergrößert; der französische 37-cm-Mörser verschoß eine Granate, die mit 150 kg Melinit geladen war. Groß ist die Zahl der während des Krieges entstandenen Sondergeschosse. Von ihnen haben die Gasgeschosse die größte Bedeutung erlangt (s. Flammengeschoß, Gasgeschoß, Kappengeschoß, Leuchtspurgeschoß, Nachrichtengeschoß, Nebelgeschoß und Panzergeschoß). Die Mittel zum Abschwächen des Mündungsfeuers haben die Erwartungen nur bedingt erfüllt.

Von den mitgeführten Beobachtungsleitern auf Beobachtungswagen ist nur wenig Gebrauch gemacht worden. Ihre Anwendung ist von zu vielen Vorbedingungen abhängig, sie sind nicht einfach genug, unbequem und zu empfindlich. Dagegen fand die Luftbeobachtung aus Flugzeug und Fesselballon ständig wachsend Anwendung und hatte große Erfolge. Das gleiche gilt von der Beobachtung mit dem Schallmeß- und dem Lichtmeßverfahren(s.d.).

In betreff der Sondergeschütze s. Flak-, Tank- und Infanteriegeschütze.

Gegenüber der außerordentlich gesteigerten Feuerwirkung erwiesen sich die Schilde nicht als ausreichend. Die verdeckte Feuerstellung wurde zur Regel; es war von großer Wichtigkeit, die so aufgestellten Geschütze der feindlichen Luftbeobachtung zu entziehen; hierzu diente auch der Schutzfarbenanstrich (s.d.). Für Geschütze der leichten Artillerie, welche in den Nahkampf eingreifen sollen, wird in Zukunft völlige Panzerung und der Kraftzug unbedingt notwendig sein. Dies führt zur Tankartillerie.

Im allgemeinen sind die Erfahrungen des Weltkrieges hinsichtlich der zukünftigen Ausgestaltung der Geschütze mit Vorsicht zu verwerten. Wenn auch in Zukunft Stellungskämpfe eine große Rolle spielen werden, so wird doch stets der Bewegungskrieg – wie in 1914/18 – entscheidend sein. Man muß deshalb vor falschen Schlüssen warnen. Es ist z.B. verkehrt, nach den während der Stellungskämpfe gemachten Erfahrungen die französische 75-mm-Feldkanone als der deutschen 7,7-cm-Feldkanone überlegen hinzustellen. Als Stellungsgeschütz leistete sie freilich mehr. Sie entwickelte 37% mehr Mündungsarbeit durch ihre größere Mündungsgeschwindigkeit und ihr größeres Geschoßgewicht. Infolgedessen und weil die Querschnittsbelastung des Geschosses besser war, erreichte sie eine um etwa 3000 m größere Schußweite und mehr Treffähigkeit. Sie hat einen Brennzünder, der um 1500 m weiter reicht, und besitzt eine Granate, welche mit ihrer fünfmal so starken Sprengladung weit eher zum Zerstören von Deckungen geeignet ist als die deutsche; ihre Feuergeschwindigkeit ist größer. Sie war aber nicht für den Stellungskampf sondern für den Bewegungskrieg gebaut und hierin[253] hat sie sich der deutschen Feldkanone unterlegen gezeigt. Die Schwerfälligkeit des Geräts und das daraus entspringende vorsichtige Auftreten der französischen Feldartillerie zu Beginn des Krieges hat ein gut Teil Schuld daran, daß das französische Heer sich meist in der Abwehr befand und dort, wo es zum Angriff schritt, nur geringe Erfolge hatte. Nur dann, wenn die französische Feldartillerie genügend Zeit zur Feuervorbereitung fand, besaß sie eine überlegene Wirkung.

F. Wille.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 1 Stuttgart, Leipzig 1920., S. 252-254.
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