Besitz

[755] Besitz (Possessio), die tatsächliche Herrschaft über eine Sache, verbunden mit dem Willen, dieselbe für sich, als seine eigne, oder für einen andern, als eine fremde, zu haben. Vielfach tragen wir aber das Wort B. auf die Sache selbst über und nennen diese daher B., besonders bei Grundstücken, wo wir direkt von Grundbesitz sprechen. Verschieden von dem Begriff B., obwohl im gewöhnlichen Leben vielfach als gleichbedeutend gebraucht, ist der Ausdruck Eigentum; denn Besitzer ist schon der, welcher tatsächlich die Gewalt über eine Sache hat, während Eigentümer nur der ist, dem diese Gewalt auch rechtlich zusteht. B. ist ein tatsächliches, Eigentum ein rechtliches Machtverhältnis. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch hat mit der keineswegs unbestrittenen gemeinrechtlichen Besitzlehre gründlich aufgeräumt und die ganze Besitzlehre in einer den heutigen Anschauungen und Verkehrsbedürfnissen entsprechenden Weise geregelt. Nach ihm ist B. nichts weiter als die tatsächliche Gewalt über eine Sache (§ 854), es ist also von dem römischen und gemeinrechtlichen Erfordernis des Besitzwillens abgesehen worden, wohl aber verlangt es bei dem Eigenbesitz (§ 854) stets den animus domini, den Besitzwillen. Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch unterscheidet fehlerfreien und fehlerhaften B., unmittelbaren und mittelbaren B., Eigenbesitz, Mitbesitz und Teilbesitz. Fehlerhaft ist ein B., wenn er durch verbotene Eigenmacht, d. h. gegen den Willen des bisherigen Besitzers und widerrechtlich erlangt wird (§ 858). Unmittelbarer B. liegt dagegen vor, wenn jemand eine Sache als Nießbraucher, Pfandgläubiger, Pachter, Mieter, Verwahrer oder in einem ähnlichen Verhältnis, vermöge dessen er einem andern (dem mittelbaren Besitzer) gegenüber auf Zeit zum B. berechtigt oder verpflichtet ist, besitzt (§ 868). In diesem Fall ist also der Eigentümer mittelbarer, der augenblickliche Inhaber der Sache unmittelbarer Besitzer. Von Eigenbesitz spricht das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch dann, wenn jemand, ohne Eigentümer einer Sache zu sein, die Sache als eigen, als ihm gehörig, besitzt, sei es, daß er die Sache bewußt widerrechtlich besitzt, wie z. B. der Dieb, sei es, daß er der Meinung ist, das Eigentum an der Sache erworben zu haben, während bestimmte Umstände den Übergang des Eigentums an ihn ausschließen. Im erstern Falle sprechen wir auch von einem bösglaubigen, im zweiten von einem gutglaubigen B. (§ 872). Als Mitbesitz bezeichnet das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch das Verhältnis, das zwischen mehreren Personen besteht, die gemeinschaftlich ein und dieselbe Sache besitzen (§ 866), während es endlich unter Teilbesitz den B. eines Teiles einer Sache, insbes. an abgesonderten Wohnräumen oder andern Räumen versteht (§ 865). Während nach bisherigem Rechte nur Willensfähige, also nicht Kinder und Geisteskranke, B. erwerben konnten, können nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch auch geschäftsunfähige Personen B. erwerben. Erworben wird der B. entweder durch Erlangung der tatsächlichen Gewalt über die Sache (§ 854, Abs. 1) oder durch die Einigung des bisherigen Besitzers und des Erwerbers, wenn letzterer in der Lage ist, die Gewalt über die Sache auszuüben (§ 854, Abs. 2). Im erstern Falle sprechen wir von originärem, im zweiten von derivativem Besitzerwerb. Wie das Eigentum, so ist auch der B. vererblich. Einen Unterschied macht das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch zwischen dem Erwerb des Besitzes durch einen sogen. Besitzdiener und dem Erwerbe des mittelbaren Besitzers durch einen sogen. Besitzmittler. Besitzdiener ist derjenige, der die tatsächliche Gewalt über eine Sache für einen andern in dessen Haushalt oder Erwerbsgeschäft oder in einem ähnlichen Verhältnis ausübt, vermöge dessen er den sich auf die Sache beziehenden Weisungen des andern Folge zu leisten hat. Besitzer ist und B. erwirbt hier nur der Herr. Besitzmittler dagegen ist derjenige, der den B. für den andern ergreifen will und auch tatsächlich ergreift. Verloren wird der B. durch Aufgabe oder sonstigen Verlust der tatsächlichen Gewalt über die Sache. Eine verlegte Sache ist deshalb immer noch in meinem B., wenn ich auch für den Augenblick keine Ahnung habe, wo sich dieselbe befindet (§ 856). Gegenstand des Besitzes können nach dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch nur Sachen sein. Da aber durch Art. 65,74,133 des Einführungsgesetzes zum deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch eine Reihe von Rechten der Landesgesetzgebung vorbehalten sind, so wird es, wenn auch nur landesrechtlich, in Zukunft auch fernerhin einen B. an Rechten geben. Bezüglich der Grunddienstbarkeiten (§ 1029) und beschränkten persönlichen Dienstbarkeiten (§ 1090) hat das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch jedoch die entsprechende Anwendung der für den Besitzschutz geltenden Vorschriften zugelassen. Den Besitzschutz genießen alle Besitzer. In erster Linie kann und darf sich der unmittelbare Besitzer selbst gegen verbotene Eigenmacht schützen, indem er bei Wegnahme einer beweglichen Sache dieselbe dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter mit Gewalt wieder abnehmen, bei Entziehung des Besitzes eines Grundstückes aber sofort nach der Entziehung sich des Besitzes durch Entsetzung des Täters wieder bemächtigen darf (§ 859). In zweiter Linie aber stehen ihm die Besitzentziehungs- und die Besitzstörungsklage (§ 861 mit 867) zu. Mit der erstern verlangt der Besitzer die Wiedereinräumung des ihm durch verbotene Eigenmacht entzogenen Besitzes von demjenigen, der ihm gegenüber fehlerhaft besitzt (§ 861), mit der zweiten dagegen Beseitigung der Störungen und, falls weitere Störungen zu besorgen sind, Unterlassung künftiger Störungen (§ 862). Derartige Klagen erlöschen jedoch ein Jahr nach Verübung der verbotenen Eigenmacht oder, falls urteilsmäßig festgestellt wurde, daß dem Täter ein Recht an der Sache zustand (§ 864). – Vgl. Savigni, Das Recht des Besitzes (7. Aufl., Wien 1865); Kuntze, Zur Besitzlehre (Leipz. 1890); Kniep, Der B. des Bürgerlichen Gesetzbuches gegenübergestellt dem römischen und gemeinen Recht (Jena 1900); Strohal, Der Sachbesitz nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (in »Iherings Jahrbüchern«, Bd. 38); Bendix, Die Besitzlehre nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung (in der Zeitschrift »Das Recht«, Bd. 4, S. 65 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 755.
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