3. Kapitel.

Fluchtsagen.

[22] In dem Leid, das der Heiland nach der hl. Schrift zu erdulden hatte, spielen bekanntlich Verfolgung und Flucht eine Hauptrolle, insbesondere an folgenden Stellen:

Matth. 2, 14. Und er [Joseph] stand auf und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich bei der Nacht und entwich in Ägyptenland. – Während dieses Aufenthaltes vollzieht sich Herodes' blutiger Kindermord, erst nach seinem Tode kehrt die hl. Familie zurück.

Matth. 14, 13 heißt es, nachdem Johannes' Enthauptung erzählt ist: Da das Jesus hörte, wich er von dannen auf einem Schiff in eine Wüste allein.

Marc. 3, 6–7. Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten alsobald einen Rat mit Herodis Dienern über ihn, wie sie ihn umbrächten. Aber Jesus entwich mit seinen Jüngern ...

Luc. 9, 7 ff. Es kam aber vor Herodes, den Vierfürsten, alles, was durch ihn geschah; und er besorgte sich, dieweil von etlichen gesagt ward: »Johannes ist von den Toten auferstanden«; von etlichen aber: »Elias ist erschienen«; von etlichen aber: »es ist der alten Propheten einer auferstanden«. Und Herodes sprach: »Johannem, den habe ich enthauptet; wer ist aber dieser, von dem ich solches höre?« Und begehrete ihn zu sehen. Und die Apostel kamen wieder ... Und er [Jesus] nahm sie zu sich und entwich besonders in eine Wüste bei der Stadt, die da heißt Bethsaida.

[22] Joh. 7, 1. Darnach zog Jesus umher in Galiläa; denn er wollte nicht in Judäa umherziehen, darum, daß ihm die Juden nach dem Leben stelleten (vgl. 5, 16). –

Zu solchen und ähnlichen Stellen kommt schließlich noch die Erzählung von der Leidensnacht in Gethsemane hinzu. Die apokryphe Tradition stattet diese Vorgänge mit dem üblichen Beiwerk wundergläubiger Erweiterung aus, wobei es ihr zuweilen widerfährt, daß sie die ganz verschiedenen Begebenheiten der Flucht des Kindes und des Mannes nicht auseinanderhält und die gleiche Sage zur Ausschmückung beider verwendet. Auch sonst arbeitet sie mit wohlfeilen Wiederholungen. So wird man gleich in der folgenden Erzählung an eine schon früher behandelte Sage erinnert (vgl. S. 12 f.). – Sofern die Fluchtgeschichten von Verstecken handeln, die Christus aufsucht, knüpfen sie an eine jüdische Tradition an, die zwar nur wenig von den Evangelien abweicht, aber schon in dieser geringen Differenz einen tiefgewurzelten Haß gegen das Christentum bekundet. Schon um 180 erwähnt sie der Epikuräer Celsus, indem er berichtet: Jesus habe sich nach seiner Verurteilung als Übeltäter zu verbergen gesucht und sei von einem Ort zum andern geflohen, aber doch schließlich ergriffen worden; die Jünger, deren Liebe er sich nicht zu erwerben gewußt, hätten ihn verraten (Neue Kirchl. Zeitschr. 12, 171 f.).

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 22-23.
Lizenz:
Kategorien: