Vierte Abtheilung

Historische Sagen


Die historischen Sagen der Lappländer drehen sich so gut wie ausschließlich um Kämpfe der Vorfahren mit benachbarten Völkerschaften. In denselben spielen »die Tschuden« (lappisch: Tschudek) die Hauptrolle. Mit dem Namen »Tschuden« bezeichnen die älteren russischen Annalen allgemein die im russischen Reiche lebenden finnischen Völkerschaften. In den Sagen der Lappländer jedoch wird darunter zunächst jener einst weitverbreitete, vorzüglich aber im heutigen Gouvernement Olonez und an den südlichen Küsten des Weißen Meeres ansässig gewesene finnische Volksstamm verstanden, mit dem sich die Lappen wegen seiner Räubereien wahrscheinlich in Fehde befunden hatten, noch bevor sie vom mittleren und nördlichen Finnland vertrieben worden waren. Als sich dann die Karelen (lappisch: Garjelak oder Karjelak) zwischen die Tschuden und die Lappen, die ursprünglich Nachbarn waren, hineindrängten, setzten dieselben während ihres Vordringens die Räubereien der alten Tschuden fort und wurden deshalb von den Lappen »Garjel Tschudek« oder auch schlechthin »Tschudek« genannt. Später unternahmen auch die Russen Raubzüge nach Lappland, und da der Name »Tschudek« (Sing. Tschutte) bald die allgemeine Bedeutung »Feinde« angenommen hatte, die er noch in der heutigen Sprache der Lappländer hat, ging derselbe auch auf die Russen über, welche »Ruossa Tschudek« benannt wurden. Gegen Süden endlich versteht man unter »Tschudek« auch die ersten eindringenden Schweden, so z.B.[181] in Sorsele, wo ihr Name Tschüre = Tschūde ausgesprochen wird1.

Als Nachkommen der alten Tschuden werden von einigen Gelehrten – wohl kaum mit Kecht – die heutigen Wepsen oder Wessen und die Woten oder Watländer bezeichnet, welche beiden Völkchen von den Russen »Tschuden« genannt werden. Die Wepsen sind ein kleines Volk von etwa 16000 Seelen, das sozusagen von Sjögren wieder entdeckt worden ist2. Sie wohnen in zwei Gruppen, einer nördlicheren längs der südwestlichen Küste des Onega vom Ausfluß des Flusses Swir aus demselben bis gegen die Stadt Petrozawodsk hin, und einer südlicheren an den oberen Verzweigungen des Ojat, eines Nebenflusses des Swir, bis beinahe zur westlichen Küste des Bělozero. Den ihm von den Russen beigelegten Namen »Tschuden« – zum Unterschiede von den Woten gewöhnlich Nord-Tschuden genannt – hat dieses Volk zum Theile auch selbst angenommen. Die Woten, ein noch kleineres Volk, befinden sich weiter im Westen in einigen Dörfern des nordwestlichsten Ingermanlands; sie nennen sich selbst Vadjalaiset, von den Finnen werden sie Vatjalaiset, von den Russen – wie oben bemerkt – jetzt Tschuden, in den alten Chroniken dagegen ВОДЬ, Wod' genannt. In früheren Zeiten erstreckten sie sich viel weiter und waren vielleicht die ältesten Bewohner mindestens eines großen Theiles von Ingermanland; aber sie wurden nach und nach immer mehr zurückgedrängt3.

Daß die alten Tschuden, von deren Existenz auch noch zahlreiche vorhistorische Grabstätten – die sogenannten »Tschudengräber« oder »Kurgane« – zeugen, wirklich Streifzüge über[182] das Weiße Meer nach dem heutigen Russisch-Lappland unternommen haben, ist aus dem Grunde wahrscheinlich, weil man bei den Lappen auf der Halbinsel Kola besonders zahlreiche Sagen über dieselben findet. (Sie leben übrigens auch noch in der Sage der Samojeden, Karelen u.s.w. fort; ja im Norden des ganzen russischen Reiches hört man noch von diesem längst verschollenen Volke – auch »die Wunderlichen« und »die Weißäugigen« genannt – dem man selbst die an den europäischen Gehängen des Uralgebirges in der permischen Formation auf Kupfer betriebenen, unzählig vielen alten Baue, die »wunderlichen Arbeiten«, zuschreibt; auch in den am Flusse Mesen gelegenen zahlreichen kleinen Ortschaften finden sich noch heutigen Tags Ringe, ausgegrabene Münzen u.dgl., welche von den Weißäugigen herrühren sollen; vgl. H.u.K. Aubel »Ein Polarsommer«, Leipzig 1874, S. 190 ff.) Nicht vollkommen gewiß ist es, ob diese Tschuden auch in Finnisch-Lappmarken und Norwegisch-Finnmarken hineinstreiften; man sollte es wenigstens wegen mehrerer Ortsnamen glauben. So gibt es einen hohen Berg, nicht weit von der Enare-Kirche, welcher heute noch »Tschudivarre« heißt und der seinen Namen davon bekommen haben soll, daß in alter Zeit die Tschuden sich dort aufhielten und von dem Berge aus das umliegende Land in Augenschein nahmen. In Torneå Lappmarken, erzählt L. Laestadius, findet sich ein Thal, das »Tschudi-korsa« d.h. Tschuden-Thal, heißt. Ebenso wird Kistrand in Norwegisch-Finnmarken »Tschudi giedde« genannt, was auf Norwegisch gewöhnlich mit »Russemark« übersetzt zu werden pflegt. Da nämlich sowohl die Karelen als auch die Russen den Namen Tschudek erbten, so können die Ortsnamen ebensogut von Zusammenstößen mit Räuberhorden dieser Nationen herrühren. – Mit diesen herumstreifenden Schaaren von Tschuden und Karelen haben die Lappen ordentliche Kämpfe bestanden, zum Theile sogar in gesammelten großen Massen. Die Zeit, zu welcher die Lappen den Plünderungen[183] dieser Räuberhorden vom Osten her ganz besonders ausgesetzt waren, wird noch jetzt »Tschudi aigge« oder »vainoi aigge« (voina bedeutet auf Russisch: Krieg), d.h. die Tschuden-oder Kriegs-Zeit, genannt. Sie mußten sich damals in Erdhöhlen verbergen, um nicht entdeckt zu werden. Der Rauch wurde durch einen langen, schmalen Gang weit fort geleitet, um die Bewohner nicht zu verrathen. Innerhalb sieben Jahre unternahmen die Karelen 178 Einfälle in Finnmarken, welche so häufig aufeinander folgten, daß eine alte Sage erzählt, es sei zwischen den einzelnen derselben nicht längere Zeit verstrichen, als daß man eine Renthierfleisch-Suppe fertig kochen konnte, und es sei nur ein Mann in Alten und einer in Varanger am Leben geblieben. Kein Wunder darum, daß diese Einfälle eine eigene Epoche in der Geschichte der Lappen bilden, von der an sie eine neue Zeitrechnung begannen4.

Was den historischen Werth dieser Sagen betrifft, so ist derselbe sehr gering; wohl »werfen sie ein dunkles Licht zurück über eine ferne Vorzeit, worin dieses einst vielleicht zahlreiche, wenn auch niemals mächtige, so doch friedliebende Volk der Lappen mit anderen mächtigeren, besser bewaffneten und kriegerischen Nationen, wie Tschuden, Karelen, Russen und Skandinaven, zusammengestoßen sind« (Friis); allein es mangelt denselben jede Spur einer localen Färbung und jede Individualität. Ueberall in Lappland werden Localitäten gezeigt, wo der Feind von dem schlaueren Lappen entweder in einen brausenden Wasserfall oder in eine tiefe Bergkluft hinuntergestürzt, oder auch auf einer einsamen Insel gelassen, oder sonst durch allerlei hinterlistige Kniffe um's Leben gebracht wird5. Die Zahl dieser Sagen ist eine sehr große, doch ist in denselben nur wenig Abwechslung; es seien deshalb nur die von Friis in seine Sammlung aufgenommenen hier mitgetheilt.

1

Vgl. J.A. Friis »Lappiske Eventyr og Folkesagn« S. 110 ff., und O. Donner »Lieder der Lappen«, S. 16.

2

Vgl. Sjögren »Gesammelte Schriften«, I.S. 468 ff.

3

W. Thomsen »Ueber den Einfluß der germanischen Sprachen auf die finnisch-lappischen«, S. 15 ff.

4

Friis, a.a.O.

5

O. Donner, a.a.O.

Quelle:
Poestion, J. C.: Lappländische Märchen, Volkssagen, Räthsel und Sprichwörter. Wien: Verlag von Carl Gerolds Sohn, 1886, S. 178-184.
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