Findelhäuser

[280] Findelhäuser, öffentliche Anstalten, worin Findlinge (Findelkinder), d.h. Kinder, welche von ihren Eltern verlassen od. ausgesetzt u. von Anderen gefunden worden sind, Aufnahme, Pflege u. Erziehung erhalten. Das erste solcher F. kommt 787 in Mailand vor, welches der Archipresbyter Datheus stiftete; 1070 wurde eins in Montpellier, um 1200 in Eimbeck, 1317 in Florenz, 1331 in Nürnberg, 1362 in Paris, 1380 in Venedig, 1687 in London, gestiftet, u. jetzt haben fast alle große Städte der romanischen Länder, auch in Rußland u. Österreich dergleichen Anstalten, während sie in den germanischen Ländern mehr u. mehr wieder aufgegeben u. dagegen das Institut der Kleinkinderbewahranstalten gepflegt wird. Am ausgebreitetsten ist das F-wesen in Paris, da dahin nicht allein Kinder aus der Stadt u. Umgegend, sondern, seit der Einführung der Eisenbahnen, aus ziemlich weiter Entfernung gebracht werden; u. da diese Kinder nicht blos uneheliche, sondern auch solcher Eltern, welche in Strafanstalten od. Hospitälern sind, dann von ihren Eltern verlassene u. endlich Waisenkinder sind. Während seit 1620 in 200 Jahren etwa 550,000 Kinder, also jährlich durchschnittlich 2750, aufgenommen wurden, steigerte[280] sich schon die Zahl von 1816–35 auf 103,000, darunter 6700 eheliche, also jährlich etwa durchschnittlich 5000. Ende 1853 war die Zahl der in ganz Frankreich verpflegten Findelkinder 93,314, darunter 72,472 Findlinge u. 25,842 Verlassene; 82,174 war der. Bestand aus den früheren Jahren, also hatte das Jahr 1853 einen Zuwachs von 16,140, d.h. 1 Findling auf 53 Geburten. Bei der Aufnahme wird über jedes Kind ein möglichst genauer Bericht angefertigt über Zeit u. Ort der Auffindung u. über die hervorstechenden Merkmale, die vielleicht später für die Eltern Erkennungszeichen werden könnten (wiewohl der Fall der Zurückforderung verhältnißmäßig nur selten vorkommt). Die Pflege der Kinder geschieht unter Aufsicht von Vorsteherinnen durch Ammen u. Wärterinnen; nach einiger Zeit schickt man die Kinder mit ihren Ammen auf das Land, gewöhnlich in den Heimathsort der Letzteren, hier besuchen sie die Schule u. gehen von da an als Handwerker, Dienstboten, Handarbeiter etc. in das Berufsleben über. In dem Findelhause selbst bleiben nur diejenigen, welche der ärztlichen Hülfe bedürfen od. sonst zu schwach sind, u. von ihnen wird die mit der Anstalt verbundene Schule benutzt. Trotz aller Fürsorge für den Körper ist die Sterblichkeit unter den Findlingen sehr bedeutend. Früher nahm man an, daß 50, ja selbst 75 Proc. in einem Jahre starben, bei der sorgfältigen ärztlichen Behandlung u. bei der eifrigen weiblichen Pflege rechnet man jetzt 1 auf 11 u. in den Hospitälern die Hälfte. Der Aufwand für die F. wird entweder durch die Privatwohlthätigkeit u. durch Beihülfe der Gemeinden, wie in England, od. durch die Staatskasse, wie in Frankreich, aufgebracht; in Frankreich wird das Budget mit 12 Millionen Fr. jährlich dadurch belastet, man rechnet hier 85–86 Fr. für den Kopf. Uber den Nutzen u. die Schädlichkeit der F. sind die Ansichten stets verschieden gewesen. Man hat zwar das Wohlthätige derselben anerkannt, wie namentlich durch ihre Gründung dem Kindermord entgegengewirkt u. der gestörte Friede in manchen Familien wiederhergestellt worden ist; allein durch diese Sorge für die Kinder wird guck die Unsittlichkeit gefördert u. ein körperlich schwächliches u. geistig verwahrlostes Geschlecht wächst in den F-n heran. Erwägungen dieser Art, zu denen auch noch finanzielle Rücksichten kamen, hatten in Frankreich bereits 1833 verschiedene Erörterungen zu Folge, an manchen Orten schloß man die F., an anderen suchte man, aber meist erfolglose Beschränkungen einzuführen, u. das Jahr 1845 würde vielleicht ihre Aufhebung herbeigeführt haben, wenn nicht Lamartine sich für ihr Fortbestehen vom staatlichen u. christlichen Standpunkte ausgesprochen hätte. In Staaten, wo eine lange Militärdienstzeit gesetzlich ist, wie in Rußland, werden alle in F-n erzogene Knaben Soldaten; in Spanien werden, nach einem Staatsgesetz, die Findelkinder stets als adelig angesehen, indem es ein kleineres Unglück sei, 100 Bürgerliche für adelig zu halten, als einen Adeligen seines Rechts zu berauben.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 280-281.
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