Metaphysik

[183] Metaphysik (v. gr.), die Wissenschaft von den letzten Realgründen der Erscheinungswelt u. somit der Mittelpunkt des theoretischen Theiles der Philosophie. Der Name ist zufällig entstanden, indem die Anordner der Werke des Aristoteles (s.d.) den Schriften desselben, welche sich mit den hierher gehörigen Fragen beschäftigen u. von ihm als zur ersten Philosophie gehörig bezeichnet worden waren, ihre Stelle nach seinen physischen Schriften u. demgemäß die Aufschrift μετὰ τὰ φυσικά gaben. Durch das Ansehen der Aristotelischen Philosophie ist dann der Name allgemein geworden. Die Sache selbst ist älter, als Aristoteles, indem schon die vorsokratischen Denker verschiedene Lehrmeinungen über die letzten Gründe der Erscheinungswelt aufgestellt hatten. Ob das, was der Welt zu Grunde liegt, nur Eins sei od. Vieles, ob ein Seiendes im strengen Sinne, od. nur ein Veränderliches u. Werdendes, ob neben den Urstoffen auch Urkräfte angenommen werden müssen, ob es eine vernünftige Ursache der Welt gebe od. nicht, was Raum, Zeit, Bewegung sei, diese u. ähnliche Fragen waren sehr frühzeitig an die Spitze der philosophischen Speculation getreten u. in sehr verschiedener Weise beantwortet worden. Aus diesen Versuchen entwickelte sich bei Plato (s.d.) u. Aristoteles das Bestreben, die allgemeinsten Begriffe, welche für unsere Auffassung der Welt maßgebend sind, ihrem Erkenntnißwerthe nach zu untersuchen; u. seit jener Zeit versteht man unter M. die Wissenschaft, welche den Versuch unternimmt, über die letzten u. höchsten Principien des Seins u. Werdens u. über das Verhältniß der Erscheinungen zu ihnen sich in einem zusammenhängenden Denken eine begriffsmäßige Rechenschaft zu geben; daher man wohl auch bisweilen unter der M. irgend einer Wissenschaft eben die Untersuchung ihrer letzten u. höchsten Principien versteht u. von einer M. der Mathematik ebenso sprechen könnte, wie z.B. Kant sich des Ausdrucks M. der Sitten (der Rechtslehre u. Tugendlehre) bediente. Die Geschichte der M. fällt daher mit der der theoretischen Speculation über jene Principien zusammen u. alle Gegensätze der philosophischen Systeme begegnen sich auf ihrem Gebiete, welches sich naturgemäß über die Philosophie der Religion, der Natur u. der Geschichte ebenso, wie über die Psychologie auszudehnen gesucht hat. Bei den Griechen erlahmte nach Aristoteles der Geist der speculativen Forschung; die Neuplatoniker (s.d.) setzten an die Stelle eines nüchternen Denkens eine Art schwärmerischer Anschauung als Erkenntnißquelle, während andererseits der Skepticismus das Vertrauen auf die Möglichkeit irgend einer Erkenntniß unterhöhlte; u. so wurde für das Abendland während des ganzen Mittelalters die Aristotelische M. maßgebend u. beherrschte die Scholastik (s.d.) als ein feststehender u. verknöcherter Dogmatismus. Als die Wiedererweckung der klassischen Studien, die Anfänge der modernen Naturforschung, die Erhebung der Geister in der Reformation der Kirche das Ansehen der, Jahrhunderte alten scholastischen Überlieferung gebrochen hatten, regte sich auch die philosophische Forschung von Neuem, indem man entweder, wie. Baco von Verulam (s.d.), auf eigentliche M. zu Gunsten der Beobachtung u. des Experiments Verzicht leistete, od. wie Campanella, Gassendi, Descartes, Spinoza, Hobbes (s.d. a.), neue Bahnen einzuschlagen versuchte. Den bedeutendsten Einfluß auf die Gestaltung der M. hatten im 17. Jahrh. neben Descartes Leibniz (s.d.) u. später Chr. Wolff (s.d.), welcher, zum Theil an Leibniz sich anschließend, zum größeren Theil mit dem überlieferten Material der Aristotelisch-scholastischen Philosophie fortarbeitend, ein ausführliches in vier Theile, Ontologie, Kosmologie, Psychologie u. natürliche Theologie, gegliedertes Lehrgebäude der M. aufstellte. Alle diese metaphysischen Versuche gingen von der Voraussetzung aus, daß die Dinge, ihre Ursachen, die Gesetze ihrer Veränderungen wirklich so beschaffen seien, wie wir sie zu denken gewohnt od. genöthigt sind, daß also des Inhalt unserer Begriffe eine wirkliche Erkenntniß der durch sie gedachten Gegenstände darbiete. Aber das Ungenügende der metaphysischen Systeme, eben so wie die Verschiedenheit ihrer Lehrmeinungen, hatten schon bei Locke die Ansicht hervorgerufen, es sei nöthig, vor der Entscheidung der Streitfragen der M. das menschliche Erkenntnißvermögen zu untersuchen, um zu bestimmen, ob u. in wie weit es einer solchen Aufgabe gewachsen sei, u. so trat bei ihm, bei Dav. Hume u. namentlich bei Kant der von dem Letzteren so genannte Kriticismus an die Stelle des bisherigen metaphysischen Dogmatismus. Das Resultat desselben war, daß wir über die Dinge an sich, ihr Wesen, ihren Ursprung, ihre Wirkungsart objectiv nichts wissen, sondern lediglich an die Art gebunden sind, wie sie uns vermöge der Organisation unseres Geistes erscheinen. Unter dem Einflusse theils dieser kritischen Richtung, theils des das 18. Jahrh. beherrschenden Empirismus, sank das Vertrauen auf den möglichen Erfolg des metaphysischen Denkens. Gleichwohl ist diese kritische od. empirische Selbstbeschränkung unfähig, das forschende Denken zu befriedigen, denn der Kriticismus u. der Empirismus sind, wenn sie nicht ganz unkritisch u. gedankenlos verfahren wollen, genöthigt, jener zur Bestimmung der Natur des Erkenntnißvermögens u. seines Verhältnisses zu den Dingen, dieser zur Auffassung des Erfahrungsstoffs, sich fortwährend derselben Begriffe zu bedienen, um welche die M. aller Zeiten sich bewegt hat; u. während daher schon J. G. Fichte (in seiner Wissenschaftslehre) u. Schelling (in seiner Identitätsphilosophie), den Anspruch, daß die objective Welt entweder als Product des subjectiven Denkens od. als das, das denkende Subject mit einschließende Universum wirklich erkennbar sei, wieder geltend gemacht hatten, ist die metaphysische Forschung in den Systemen Hegels, welcher das Wort M. mit dem ƇSpeculative Logikű vertauschte, u. Herbarts in einer von dem Empirismus[183] ebenso, wie von dem Kriticismus der Kant'schen Periode unabhängigen Weise mit erneuerter Kraft wieder aufgetreten. Trotz des durchgreifenden Gegensatzes in der Denkart u. den Lehrsätzen dieser beiden Denker, legen doch beide darauf das größte Gewicht, daß alle die allgemeinen Begriffe, durch welche wir die uns umgebende Welt auffassen, Widersprüche in sich einschließen, u. daß diese Widersprüche das treibende Princip des metaphysischen Denkens sind. In der Verschiedenheit der Bedeutung, welche sie ihnen beilegen, liegt der Grund für die Verschiedenheit ihrer Methoden u. ihrer Resultate. Die Geschichte der M. lehrt im Allgemeinen, daß die Antriebe, eine haltbare M. zu suchen, sich immer wieder von Neuem geltend machen, daß aber die M. selbst bis jetzt vielmehr eine gesuchte, als eine gefundene Wissenschaft ist.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 183-184.
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