Vernunft

[501] Vernunft (von vernehmen), bezeichnet die Fähigkeit od. das Vermögen etwas zu vernehmen, was die sinnliche Wahrnehmung überschreitet u. in das Gebiet geistiger Objecte u. Verhältnisse fällt, welche entweder eine theoretische Erkenntniß od. eine ästhetische u. sittliche Beurtheilung einschließen. Daher gilt die V., als eine Gesammtbezeichnung für die höheren geistigen Thätigkeiten, für das unterscheidende Merkmal des Menschen von den Thieren Da aber die Deutsche Sprache zur Bezeichnung der höheren Functionen des Denkens neben dem Worte V. auch den Ausdruck Verstand besitzt, so ist die Begriffsbestimmung dieser beiden Vermögen für die Psychologie u. die Theorie der Erkenntniß Gegenstand sehr verschiedener Erklärungen geworden u. in dem Sprachgebrauch der neueren deutschen Philosophie ist die V. meist für ein dem Verstande übergeordnetes Vermögen, ja selbst als ein demselben entgegengesetztes erklärt worden. Dieser Gegensatz liegt noch nicht in dem Sprachgebrauch der Wolfischen Schule, welche in logischer Beziehung die V. für das Vermögen der Schlüsse erklärte, während der Verstand die Begriffe bilde u. dieselben zu Urtheilen zusammenfüge; der Gegensatz ist zunächst durch Kant aufgekommen, indem dieser die verschiedenen Begriffsklassen, welche in dem entwickelten menschlichen Gedankenkreise vorkommen, besonderen Seelenvermögen zuwies u. die letzteren nach dem Beitrage, welchen jedes zur Erkenntniß gibt, von einander abgrenzte. Dem Verstande wies er außer den durch den Satz des Widerspruchs beherrschten logischen Functionen, die Kategorien als diejenigen Begriffe zu, deren Gebrauch unserer Auffassung der sinnlichen Erscheinungswelt ihre bestimmte Form gibt; für das besondere Eigenthum der V. dagegen erklärte er in theoretischer Beziehung die Idee des Unbedingten u. Unendlichen (Absoluten), in praktischer den schlechthin gebietenden (kategorischen) Imperativ der Sittlichkeit; diese theils theoretische, theils praktische V. ist das Vermögen der Ideen, im Gegensatze zum Verstande als dem Vermögen der denkenden Auffassung der Erscheinungswelt durch Begriffe. Der Einfluß dieser Terminologie bestimmte zunächst F. H. Jacobi die V. für das Vermögen zu erklären, welches das Übersinnliche, die Existenz Gottes, die Freiheit des Menschen, das Schöne, das Gute ebenso unmittelbar vernimmt, wie die Sinne die Wirklichkeit der äußeren Dinge; u. ebenso bedienten sich die idealistischen Systeme Schellings u. Hegels des Wortes V. zur Bezeichnung des Trägers der höheren Erkenntniß, welche sich entweder durch ihren Gegenstand, das Absolute, Unendliche, Ewige, od. durch ihre Methode von der niederen Verstandeserkenntniß unterscheide. Bei Schelling bedeutet V. bald das Absolute selbst, bald das Vermögen der intellectuellen Anschauung, als des diesem allein angemessenen Erkenntnißactes, u. Hegel erklärte das vernünftige u. speculative Denken für dasjenige, welches die Vermittelung der Gegensätze im Processe des Werdens, die Dialektik der sich selbst zu immer höheren Stufen emporarbeitenden Idee erkenne, während das blos verständig reflectirende Denken an der festen Bestimmtheit u. Unvereinbarkeit der einzelnen entgegengesetzten Begriffe festhalte u. daran zu Schanden werde, worin die Consequenz liegen würde, daß das blos verständige Denken sich durch seine Unvernunft, u. das vernünftige sich durch seinen Unverstand zu erkennen gebe. Diese verschiedenen Versuche gewisse speculative Behauptungen einfach durch die Berufung auf die V. zu erhärten od. methodische Vorschriften, deren Anwendung das Gebäude aller übrigen Wissenschaften über den Haufen stürzen würde, durch ihr Ansehen zu rechtfertigen, haben auf den Sprachgebrauch des gewöhnlichen Lebens im Ganzen u. Großen keinen maßgebenden Einfluß gehabt. Dieser kennt für den Verstand u. die V. keinen so weiten [501] Zwischenraum, wie die philosophischen Systeme; er findet das Merkmal für Vernünftigkeit vor allem in der Zugänglichkeit für Gründe; er nennt den Rohen, den Dummen, den Unwissenden, den Phantasten, den Leichtsinnigen, den leidenschaftlich Aufgeregten unvernünftig, wenn er für Gründe ganz unzugänglich ist; um aber Gründe auf sich einwirken zu lassen u. sich nach ihnen zu richten, muß man sie verstanden haben, u. Niemand wird vernünftig sein können, ohne zugleich verständig zu sein. Welcherlei Art die Gründe sind, welche auf den Menschen wirken, ob sie blos Gründe des Fürwahrhaltens od. Gründe einer idealen u. uneigennützigen Werthschätzung u. Motive eines hiervon regierten Handelns sind, darnach richtet sich der Unterschied dessen, was man als theoretische u. als praktische V. bezeichnet; immer aber wird der Grad von Vernünftigkeit, welchen der Mensch besitzt u. bewährt, Resultat einer Bereicherung u. Ausbildung seines geistigen Lebens sein, dessen Bedingungen u. Formen nachzuweisen Aufgabe der Psychologie ist. Daß die Berufung auf die V. als ein besonderes, vor allen übrigen bevorzugtes Seelenvermögen nicht genügt, um gewisse wirkliche od. vermeinte Erkenntnisse unmittelbar zu rechtfertigen, darauf kann schon der Umstand aufmerksam machen, daß Kant, obwohl er der V. die Idee des Unendlichen u. Unbedingten als den ihr eigenthümlichen Besitz zuwies, doch auf eine objective Erkenntniß des Gegenstandes dieser Erkenntniß Verzicht leistete, während seine Nachfolger gerade diese objective Erkenntniß durch die Berufung auf die V. erhärten zu können glaubten.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 501-502.
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