Vorrücken

[695] Vorrücken, 1) in der Malerei von einer Farbe, wenn sie einen Gegenstand dem Vorgrunde gleichsam nähert. Weiß rückt mit dem Braunen vor, ohne dasselbe entfernt es, bloßes Schwarz rückt am stärksten; 2) V. der Nachtgleichen (Präcession), eine allen Fixsternen gemeinsame (scheinbare) Bewegung, durch welche die Länge eines jeden derselben, jährlich etwas um 501/3 Secunde (also in 711/2 Jahren ziemlich um 1 Grad) vergrößert wird u. wobei sich zugleich ihre gerade Aussteigung u. Abweichung ändert u. nur ihre Breite dieselbe bleibt. Entweder gehen die Fixsterne hierbei, also der Ekliptik parallel vorwärts, od. die Durchschnittspunkte der Ekliptik mit dem Äquator (d.i. Nachtgleichen) gehen rückwärts. Die Kopernikanische Astronomie hat für letztere Ansicht entschieden u. man sollte den Vorgang daher ein Rückwärtsgehen der Nachtgleichen nennen. Da aber die Breite aller Sterne unverändert bleibt, so ist die Ekliptik nothwendig als fest zu denken u. der weitere Grund der Erscheinung ist in einer Bewegung der Ebene des Äquators zu suchen, welche jedoch gegen die Ekliptik dabei immer einerlei Neigung behalten muß. Diese Bewegung versinnlicht man sich vollkommen, wenn man sich die rotirende Erde als einen Kreisel vorstellt, dessen Achse gegen die horizontale Ebene, über welcher er sich dreht, geneigt ist u. während der Bewegung des Kreisels um die Verticallinie eine Kegelfläche beschreibt; so beschreibt auch die Rotationsachse der Erde um eine aus der Ebene der Erdbahn senkrechte Linie (Achse der Ekliptik) eine Kegelfläche, in welcher sie jährlich 50,2113 Secunden fortschreitet, so daß der Umlauf in etwas mehr als 25,000 Jahren (von manchen Chronologen das Platonische Jahr genannt) vollendet ist. Diese Bewegung der Rotationsachse der Erde unterliegt noch periodischen Schwankungen von 19jähriger Periode in Folge der Nutation, welche Änderungen bis zu 18 Secunden hervorbringt. Die erste Beobachtung jener Veränderung in der Stellung der Fixsterne gegen die Nachtgleichen, d.h. gegen die Punkte des Himmels, wo die Sonne bei ihrem jährlichen scheinbaren Lauf durch die Ekliptik die Ebene des Äquators durchschneidet, verdankt man dem Hipparchos, welcher schon 128 v. Chr. die Längen der Fixsterne um 2 Grad größer fand als Timochares u. Aristyllos. Seitdem haben die Längen der Fixsterne über 30 Grad zugenommen, daher ist die jährliche Rückkehr der Sonne zu demselben Fixsterne nicht identisch mit ihrer Rückkehr zum Frühlingsnachtgleichenpunkte, von welchem aus die Längen gerechnet werden, nämlich das tropische Jahr (in Bezug auf den Frühlingspunkt) ist nur 365 Tage 5 Stunden 48 Minuten 48 Secunden, während das siderische[695] 365 Tage 6 Stunden 9 Minuten 10 Secunden ist; u. theilt man also die jährliche tropische Bahn der! Sonne in zwölf Zeichen, so erscheinen die Sternbilder des Thierkreises, welche vor ungefähr 2000 Jahren mit diesen Zeichen zusammenfielen, gegenwärtig gegen ihr Zeichen um etwa 30 Grad verschoben; das Sternbild der Fische fällt jetzt mit dem Zeichen des Widders zusammen. Auch ändert sich die Lage des Nordpols zwischen den Fixsternen durch das V. d. N. Der Stern α im Kleinen Bär (Polarstern), welcher jetzt nur 1° 30´ vom Nordpol absteht, war zu Hipparchos Zeiten 12 Grad vom Pol entfernt u. 14,000 n. Chr. wird etwa α der Leier Polarstern genannt werden müssen. Die Erklärung der wahren Ursache dieser Erscheinung gab zuerst Newton, welcher zeigte, daß die Anziehung von Sonne u. Mond auf die nicht vollkommen sphärische, sondern an den Polen abgeplattete Erdkugel, die Durchschnitts- od. Knotenlinie (Nachtgleichenlinie) des Äquators mit der Ekliptik beständig zurücktreiben müsse.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 695-696.
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