Figur (Zeichnende Künste)

[383] Figur. (Zeichnende Künste)

Eigentlich versteht man durch dieses Wort die Begränzung oder Einschränkung der Größe eines Körpers, in so fern er dadurch ein seiner Art besonderes Ansehen bekömmt. Durch die Figur wird ein Körper dreyekigt, vierekigt, rund, regelmäßig oder unregelmäßig, von schönem oder häßlichem Ansehen. Doch scheinet der Gebrauch der Sprache diesen allgemeinen Begriff der Figur, insonderheit in der Sprache der Künstler, durch das Wort Form auszudrüken. Schöne Formen sind schöne Figuren. Man sagt in diesem Sinn lieber, diese Vase, oder[383] dieses Gefäß ist von einer schönen Form, als von einer schönen Figur. Wenigstens versteht man in den zeichnenden Künsten durch Figur insgemein die Vorstellung der menschlichen Gestalt. Von einer Landschaft sagt man, die Figuren derselben seyen schön, die Landschaft sey mit oder ohne Figuren, und versteht dieses von den Zeichnungen menschlicher Gestalten.

Dadurch zeiget man an, daß die menschliche Bildung die schönste Form ist, der die Benennung der Figur vorzüglich zukömmt. In der That ist sie unter allen Formen, die wir kennen, das Schönste; ihr Reitz kann uns bis zum Entzüken rühren. Sie ist also das Höchste, was die bildenden Künste uns darstellen können; daher muß ein Künstler sich vorzüglich in Zeichnung und Bildung der Figuren üben, weil er ohne dieses seinem Werke den höchsten Reitz niemals geben kann. Selbst den Werken, darin die Figuren nicht schlechterdings nothwendig sind, als den Landschaften und perspektivischen Vorstellungen schöner Gebäude, geben erst die Figuren das rechte Leben.

Das Schöne der menschlichen Bildung wird aber vornehmlich im Nakenden erkennt. Daher müssen die Figuren, so weit es die Schiklichkeit, Anständigkeit, oder der Wolstand erlauben, ganz oder zum Theil nakend, oder doch so bekleidet seyn, daß der größte Theil des Reitzes noch übrig bleibe, und durch das Gewand entdekt werden könne. Was ein Künstler zu Erlangung einer Geschiklichkeit in Zeichnung der Figuren zu beobachten habe, haben wir im Art. Zeichnen angeführt. Von der Schönheit der menschlichen Gestalt aber ist im Art. Schönheit gesprochen worden.

Bey Beurtheilung einer Figur muß man sich selbst folgende Fragen machen. Hat die ganze Gestalt dieser Figur das Ansehen einer vollkommen schönen Person, nach Beschaffenheit ihres Alters und Geschlechts? Zeiget sie in dem Gesicht einen Geist mit Nachdenken, oder eine Seele mit Empfindungen? Sieht man in ihrer Stellung eine besondere Bestimmung zu einer gewissen Verrichtung? Sind die Bewegungen und Gebährden natürlich, und zu einem gewissen Zwek einstimmend? Wenn diese Sachen sich in der Figur nicht deutlich zeigen, so ist sie nicht schön gezeichnet. Das Urtheil aber über alle diese Theile, die zur Schönheit einer Figur gehören, hängt von einer genauen Kenntnis der Schönheit der natürlichen und sittlichen Bewegungen des Menschen ab. Man muß nicht nur die Phisionomien, die Gebehrden, Bewegungen, Stellungen und alle natürlichen Formen der Menschen genau beobachtet, sondern auch viel schöne Personen, von allerley Stand, Alter und Charakter oft betrachtet haben, um ein solches Urtheil fällen zu können. Eine fleißige Betrachtung des Antiken, der besten griechischen Bilder, schärft das Auge zur Beurtheilung der Figuren.

Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 383-384.
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