Figur (Redende Künste)

[384] Figur. (Redende Künste)

Eine sich besonders auszeichnende, eine eigene Form annehmende, Art sich auszudrüken, der Ausdruk bestehe in einem einzigen Wort, oder einer ganzen Redensart. Jeder Ausdruk, der wegen seiner guten Art verdient, mit einem besondern Namen genennt zu werden, ist eine Figur, das ist, eine eigene Gestalt der Rede. Nachdem man einmal angefangen hatte, über die Sprache der Redner und Dichter nachzudenken, um den Ursprung der verschiedenen Annehmlichkeiten des Nachdruks und der Hoheit derselben zu entdeken, hat man bald angemerkt, daß gewisse Formen oder besondere Beschaffenheiten des Ausdruks, eine besondere Würkung haben. Damit man nun die verschiedenen Arten der Formen von einander unterscheidete, so mußte man die vornehmsten mit besondern Namen bezeichnen, die eine eine Ausrufung, die andre eine Wiederholung, die dritte anders nennen. Dies ist der Ursprung der Lehre von den Figuren, worüber die Lehrer der Sprache und der Beredsamkeit so viel geschrieben haben1.

Wenn wir das Wort Figur in seiner allgemeinesten Bedeutung für die besondere Form einer Sache nehmen, so giebt es überhaupt drey Gattungen von Figuren; nämlich Figuren der Sachen, die wir uns vorstellen, Figuren der Ordnung, Figuren des Ausdruks. Ziehen wir aber blos die Vorstellungen [384] in Betrachtung, in so fern sie in den redenden Künsten vorkommen, so müssen wir diese drey Hauptgattungen der Figuren also bestimmen. Die Figuren der Sachen, welche bey den lateinischen Schriftstellern figuræ sententiarum heißen, sind besondere Formen der durch die Sprache auszudrükenden Sachen; dergleichen Figuren sind die Bilder, die Vergleichung, die Gleichnisse, das Beyspiel und andre. Die Figuren der Ordnung sind besondere Formen in der Anordnung der Begriffe und Wörter, aus denen eine Hauptvorstellung erwächst, dergleichen ist das, was man mit einem griechischen Ausdruk das ὑςερον προτερον, nennt. Die Figuren des Ausdruks sind gewisse Formen in dem Ausdruk der Worte, figuræ dictionis. Diese betreffen entweder blos das Mechanische der Worte, da z. B. etwa eine Sylbe weggelassen, oder eine hinzugesetzt wird; oder sie betreffen die Mechanik der Zusammensetzung der Wörter, da ganze Wörter ausgelassen, oder wiederholt werden; oder sie betreffen endlich den Sinn und die Bedeutung der Wörter; eine Ausrufung, eine Frage, eine Verwundrung, oder eine Anspielung.

Wir werden von den Figuren des Ausdruks nur beyläufig in verschiedenen Artikeln, wo die Gelegenheit es mit sich bringt, dasjenige anmerken, was der Redner und Dichter darüber zu bedenken hat. Von den Tropen aber wird in einem besondern Artikel gesprochen werden.

Die Erfindung der Figuren dürfen wir eben keiner überlegten Kunst zuschreiben. Sie sind vermuthlich alle so alt als die Sprachen selbst. Der Affekt, das Feuer des Redners, seine Begierde nachdrüklich zu seyn, seine Begriffe sinnlich darzustellen, und zum Theil der Mangel der Sprache, haben sie natürlicher Weise ohne Ueberlegung hervorgebracht. Denn eigentlich ist jede Art zu reden, jedes Wort, in so fern es ausser seiner Bedeutung, ausser dem Sinn, etwas an sich hat, das aus dem Affekt der redenden Person entsteht, eine Figur.

Es wär aber eine unendliche Arbeit alle besondere Figuren zu betrachten, ihre eigentliche Beschaffenheit, ihren Gebrauch und Mißbrauch anzuzeigen; denn es giebt, wie Baumgarten vielleicht zuerst angemerkt hat, unendlich viele.2 Man muß das meiste, was davon könnte gelehrt werden, dem Geschmak des Redenden überlassen. Indessen haben wir die vornehmsten Arten derselben in besondern Artikeln etwas umständlicher betrachtet.

Hier erinnern wir nur überhaupt, daß sie entweder zur Lebhaftigkeit des Mechanischen im Ausdruk, oder zur Verschönerung der Vorstellung selbst, oder zum anschauenden Erkenntnis der Sache, nothwendig sind. Uebrigens ist zu wünschen, daß die mühesame und schweerfällige Aufzählung und Erklärung so sehr vieler Arten der Figuren, aus den für die Jugend geschriebenen Rhetoriken einmal wieder verbannt werden möchte. Diese Materie dienet zur Beredsamkeit gerade so viel, als eine scholastische Nomenclatur der Ontologie zur Erweiterung der Philosophie dienet. In der That sind die Rhetoren, die Griechenland nach dem Verfall der wahren Beredsamkeit in so großer Menge hervorgebracht hat, in Absicht auf die Beredsamkeit, gerade das, was die Scholastiker der mittlern Zeiten, in Absicht auf die Weltweisheit. Mancher gute Kopf bekömmt einen Ekel für die Beredsamkeit, wenn man ihn zwingt, die verzweifelten Namen und Erklärungen aller Figuren auswendig zu lernen, und ihm dabey sagt, daß dieses zur Erlernung der Beredsamkeit gehöre.

1Illud genus orationis, in quo per quamdam suspicionem, quod non dicimus, accipi volumus; non utique contrarium, ut in Ironia, sed aliud latens, et auditori quasi inveniendum. Quint. IX. 2. 65. Diese Erklärung geht mehr auf die Tropen insbesondre, als auf die Figuren überhaupt.
2Figurarum sententiæ tot, quot Argumentorum sunt genera. Aesth. I. §. 27. Quis numerus (troporum)? innumerabilis. Ib. II. §. 782.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 384-385.
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