Hauptsatz

[522] Hauptsatz. (Musik)

Ist in einem Tonstük eine Periode, welche den Ausdruk und das ganze Wesen der Melodie in sich begreift, und nicht nur gleich anfangs vorkömmt, sondern durch das ganze Tonstük ofte, in verschiedenen Tönen, und mit verschiedenen Veränderungen, wiederholt wird. Der Hauptsatz wird insgemein das Thema genennt; und Mattheson vergleicht ihn nicht ganz unrecht mit dem Text einer Predigt, der in wenig Worten das enthalten muß, was in der Abhandlung ausführlicher entwikelt wird.

Die Musik ist eigentlich die Sprache der Empfindung, deren Ausdruk allezeit kurz ist, weil die Empfindung an sich selbst etwas einfaches ist, das sich durch wenig Aeusserungen an den Tag leget. Deswegen kann ein sehr kurzer melodischer Satz, von zwey, drey oder vier Takten eine Empfindung so bestimmt und richtig ausdruken, daß der Zuhörer ganz genau den Gemüthszustand der singenden Person daraus erkennt. Wenn also ein Tonstük nichts anderes zur Absicht hätte, als eine Empfindung bestimmt an den Tag zu legen, so wär ein solcher kurzer Satz, wenn er glüklich ausgedacht wäre, dazu hinlänglich. Aber dieses ist nicht die Absicht der Musik; sie soll dienen den Zuhörer eine Zeitlang in demselben Gemüthszustande zu unterhalten. Dieses kann durch bloße Wiederholung desselben Satzes, so fürtreflich er sonst ist, nicht geschehen; weil die Wiederholung derselben Sache langweilig ist und die Aufmerksamkeit gleich zu Boden schlägt. Also mußte man eine Art des Gesanges erfinden, in welchem ein und eben dieselbe Empfindung, mit gehöriger Abwechslung und in verschiedenen Modificationen, so ofte konnte wiederholt werden, bis sie den gehörigen Eindruk gemacht haben würde.

Daher ist die Form der meisten in der heutigen Musik üblichen Tonstüke entstanden, der Concerte, der Symphonien, Arien, Duette, Trio, Fugen u. a. Sie kommen alle darin überein, daß in einem Haupttheile nur eine kurze, dem Ausdruk der Empfindung angemessene Periode, als der Hauptsatz zum Grund gelegt wird; daß dieser Hauptsatz durch kleinere Zwischengedanken die sich zu ihm schiken, unterstützt, oder auch unterbrochen wird; daß der Hauptsatz mit diesen Zwischengedanken in verschiedenen Harmonien und Tonarten, und auch mit kleinen melodischen Verändrungen, die dem Hauptausdruk angemessen sind, so ofte wiederholt wird, bis das Gemüth des Zuhörers hinlänglich von der Empfindung eingenommen ist, und dieselbe gleichsam von allen Seiten her empfunden hat.

Bey allen diesen Stüken macht der Hauptsatz immer das Wesentlichste der ganzen Sach aus: seine Erfindung ist das Werk des Genies; die Ausführung aber ein Werk des Geschmaks und der Kunst. Ist der Tonsetzer in dem Hauptsatz nicht glüklich gewesen, so kann er, wenn er sonst die Kunst wol versteht, ein sehr regelmäßiges und sehr künstliches, auch vollkommen wolklingendes Stük machen; aber es wird ihm an der wahren Kraft, dauerhafte Empfindungen zu erweken, fehlen.

Die vornehmste Eigenschaft des Hauptsatzes ist eine hinlängliche Deutlichkeit oder Verständlichkeit des Ausdruks, so daß der, welcher den Hauptsatz gehört hat, ohne Ungewißheit so gleich diese Sprache des Herzens verstehe, oder sich in die Empfindung dessen, der singet, setzen könne. Ist die Empfindung nicht völlig bestimmt und verständlich, so kann das Stük nie ein ganz vollkommenes Tonstük werden, wenn es auch von dem ersten Tonsetzer der Welt ausgeführt würde. Diese Verständlichkeit hängt so wol von dem Gesang oder der melodischen Fortschreitung, als von der Bewegung und dem Takt ab, und ist, wie gesagt, gänzlich das Werk des Genies, zu dessen Erfindung keine Regel kann gegeben werden.

Indessen ist das Genie allein nicht hinreichend dem Hauptsatz alle Vollkommenheit zu geben, auch die Kunst muß das Ihrige dabey thun; denn alle Eigenschaften, die nicht unmittelbar zum Verstand des Ausdruks gehören, hangen eigentlich von der Kunst ab. Der Hauptsatz muß eine gewisse Länge haben: ist er zu kurz, so verträgt er die nöthigen Veränderungen und die zu den Wiederholungen erfoderliche Mannigfaltigkeit der Wendungen nicht; ist er zu lang, so bleibet er im Ganzen nicht deutlich genug im Gedächtnis. Er kann also in geschwinder Bewegung nicht wol unter zwey, und in langsamer Bewegung nicht wol über vier Takte [522] seyn. Hat der Tonsetzer einen Gedanken von sehr verständlichem Ausdruk gefunden, so muß er ihm, in Absicht auf die Länge, die gehörige Ausdähnung oder Einschränkung zu geben wissen. Bey längern Hauptsätzen, die aus mehrern kleinen Einschnitten bestehen, muß er sehr sorgfältig seyn, den genauesten Zusammenhang darin zu beobachten, damit der Hauptsatz eine wahre Einheit habe und nicht aus zwey andern zusammengesetzt sey: man muß keinen Schluß darin fühlen, bis er ganz vorgetragen ist. Hiezu gehört also Kunst und Ueberlegung.

Ferner müssen schon in dem Hauptsatz die Gelegenheiten liegen, die kleinen Zwischensätze anzubringen, wodurch die schönste Abwechslung im Gesang erhalten wird. Diese Zwischensätze kommen insgemein auf die kleinen Ruhepunkte, oder auf etwas anhaltende Töne des Hauptsatzes, und müssen die Empfindung näher und genauer bezeichnen. Darum muß der Hauptsatz die Empfindung nur im Ganzen und überhaupt schildern und Gelegenheit geben, daß die feinere Auszeichnung könne dazwischen gesetzt wer den, und daß dieses mit der gehörigen Abwechslung geschehen könne, ohne daß die Einheit des Rhythmus das geringste dabey leide.

Diese Zwischensätze treten bisweilen erst am Ende des Hauptsatzes ein. Also gehört auch da Kunst dazu, daß bey den hernach folgenden Wiederholungen alles in eine natürliche und leichte Verbindung könne gebracht werden.

Wer blos für Instrumente setzt, findet hierin weniger Schwierigkeit, als wo über einen Text componirt wird. Denn hier muß alles, die Bewegung und die Länge des Satzes, die kleinen Einschnitte oder Ruhepunkte, genau mit der Versart übereinstimmen, welches ofte nicht geringe Schwierigkeiten macht.

Man siehet hieraus, daß außer dem natürlichen Genie viel Geschmak, Kunst und Erfahrung zur Erfindung und Behandlung des Hauptsatzes erfodert werde. Es ist deswegen ein großer Mangel in der Theorie der Musik, daß man so gar wenig über diese wichtige Materie angemerkt findet. Man muß darum auch hierin, wie in verschiedenen andern Dingen dem guten Mattheson Dank wissen, daß er darüber wenigstens einen Versuch gemacht hat1; ob er gleich nicht der Mann war, diese Materie nach Verdienst abzuhandeln. Es würde von großem Nutzen seyn, wenn ein feiner Kenner aus den Tonstüken der größten Meister die schönsten Hauptsätze aufsuchen, und darin das, was der Kunst und dem Geschmak zugehört, anzeigen und entwikeln würde. Denn in Sachen, worüber man keine bestimmte Regeln geben kann, dienen vollkommene Beyspiele anstatt der Regeln.

1In seinem vollkommenen Capellmeister, wo er im II Theil in einem eigenen Abschnitt von der melodischen Erfindung handelt. Man wird darin unter viel pedantischem Zeug manche sehr gute und auch einige wichtige Anmerkungen antreffen.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 522-523.
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