Lyrisch

[726] Lyrisch. (Dichtkunst)

Die lyrischen Gedichte haben diese Benennung von der Lyra, oder Leyer unter deren begleitenden Klang sie bey den ältesten Griechen abgesungen wurden; wiewol doch auch zu einigen Arten die Flöte gebraucht worden. Der allgemeine Charakter dieser Gattung wird also daher zu bestimmen seyn, daß jedes lyrische Gedicht zum Singen bestimmt ist. Es kann wol seyn, daß in den ältesten Zeiten auch die Epopöe von Musik begleitet worden, so wie wir es auch mit Gewißheit von der Tragödie behaupten können. Dessen ungeachtet ist der Charakter des eigentlichen Gesanges vorzüglich auf die lyrische Gattung anzuwenden, da die epischen und tragischen Gedichte mehr in dem Charakter des Recitatives, als des Gesanges gearbeitet sind.

Um also diesen allgemeinen Charakter des lyrischen zu entdeken, dürfen wir nur auf den Ursprung und die Natur des Gesanges zurük sehen.1 Er entsteht allemal aus der Fülle der Empfindung, und erfodert eine abwechselnde rhythmische Bewegung, die der Natur der besondern Empfindung, die ihn veranlasset, angemessen sey. Niemand erzählt, oder lehret singend, wo nicht etwa die Aeusserung einer Leidenschaft zufälliger Weise in diese Gattung fällt. Lyrische Gedichte werden deswegen allemal von einer leidenschaftlichen Laune hervorgebracht; wenigstens ist sie darin herrschend, der Verstand, oder die Vorstellungskraft aber sind da nur zufällig.

Also ist der Inhalt des lyrischen Gedichts immer die Aeußerung einer Empfindung, oder die Uebung einer fröhlichen, oder zärtlichen, oder andächtigen, oder verdrießlichen Laune, an einem ihr angemessenen Gegenstand. Aber diese Empfindung oder Laune äußert sich da nicht beyläufig, nicht kalt, wie bey verschiedenen andern Gelegenheiten; sondern gefällt sich selbst, und sezet in ihrer vollen Aeußerung ihren Zwek. Denn eben deswegen bricht sie in Gesang aus, damit sie sich selbst desto lebhafter und voller genießen möge. So singet der Fröhliche, um sein Vergnügen durch diesen Genuß zu verstärken, und der Traurige klagt im Gesang, weil er an dieser Traurigkeit Gefallen hat. Bey andern Gelegenheiten können dieselben Empfindungen sich in andern Absichten äußern, die mit dem Gesang keine Verbindung haben. So läßt der Dichter in der Satyre und im Spottgedicht seine verdrießliche oder lachende Laune aus, nicht um sich selbst dadurch zu unterhalten; sondern andre damit zu strafen. Das lyrische Gedicht hat, selbst da, wo es die Rede an einen andern wendet, gar viel von der Natur des [726] empfindungsvollen Selbstgespräches. Darum ist die Folge der lyrischen Vorstellungen nicht überlegt, nicht methodisch; sie hat vielmehr etwas seltsames, auch wol eigensinniges; die Laune greift, ohne prüfende Wahl, auf das, was sie nährt, wo sie es findet. Wo andre Dichter aus Ueberlegung sprechen, da spricht der Lyrische blos aus Empfindung. Gravina hat nach seiner unnachahmlichen Art in gar wenig Worten den wahren Begriff des lyrischen Gedichts angegeben. Die lyrischen Gedichte sagt er, sind Schilderungen besonderer Leidenschaften, Neigungen, Tugenden, Lastern, Gemüthsarten und Handlungen; oder Spiegel aus denen auf mancherley Weise die menschliche Natur hervorleuchtet.2 In der That lernt man das menschliche Gemüth in seinen verborgensten Winkeln daraus kennen. Dieses ist das Wesentliche von dem innern Charakter dieser Gattung. Doch können wir auch noch zum innerlichen Charakter die Eigenschaft hinzufügen, daß der lyrische Ton durchaus empfindungsvoll sey, und jede Vorstellung entweder durch diesen Ton, oder durch eine andre ästhetische Kraft müsse erhöhet werden; damit durch das ganze Gedicht die Empfindung nirgend erlösche. Nichts ist langweiliger, als eine Ode, darin eine Menge zwar guter, aber in einem gemeinen Ton vorgetragener Gedanken vorkommt. Daß der besonders leidenschaftliche Ton bey dem lyrischen Gedicht eine wesentliche Eigenschaft ausmache, sieht man am deutlichsten daraus, daß die schönste Ode in einer wörtlichen Uebersezung wo dieser Ton fehlet alle ihre Kraft völlig verliehrt.

Hieraus ist auch die äußerliche Form des lyrischen Gedichtes entstanden. Da lebhafte Empfindungen immer vorübergehend sind, und folglich nicht sehr lange dauren, so sind die lyrischen Gedichte nie von beträchtlicher Länge Doch schiket sich auch die völlige Kürze des Sinngedichtes nicht dafür; weil der Mensch natürlicher Weise bey der Empfindung, die ihm selbst gefällt, sich verweilet, um entweder ihren Gegenstand von mehrern Seiten, oder in einer gewissen Ausführlichkeit zu betrachten; oder weil das ins Feuer gesezte Gemüth sich allemal mit seiner Empfindung selbst eine Zeitlang beschäftiget, ehe es sich wieder in Ruhe sezet.

Natürlicher Weise sollte das lyrische Gedicht wolklingender und zum Gesang mehr einladend seyn, als jede andre Art; auch periodisch immer wiederkommende Abschnitte, oder Strophen haben, die weder allzulang, und für das Ohr unfaßlich, noch allzukurz, und durch das zu schnelle Wiederkommen langweilig werden. So sind auch in der That die meisten lyrischen Gedichte der Alten. Aber der eigentliche Hymnus der Griechen, der in Hexametern ohne Strophen ist, geht davon ab. Auch ist in der That die Empfindung darin von der ruhigern, mit stiller Bewundrung verbundenen, Art, für welche der Hexameter nicht unschiklich ist.

Diese Gattung der Gedichte därf in Ansehung der Wichtigkeit und des Nuzens keiner weichen. Hierüber verdienet das ganze Capitel des Gravina, aus dem so eben eine Stelle angeführt worden, gelesen zu werden; denn dieser fürtrefliche Mann hat die lyrische Dichtkunst in ihrem wahren Gesichtspunkt betrachtet, und als ein Philosoph und Kenner der Menschen davon geurtheilet. Von der Wichtigkeit des Liedes ist im Artikel desselben besonders gesprochen worden, und im Artikel Ode, wird diese Art in Absicht auf ihrem Nuzen beurtheilet. Hier merken wir nur überhaupt an, daß die lyrische Dichtkunst, die Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen, welche wir in andern Dichtungsarten, in ihren Würkungen, und meistentheils nur überhaupt, und wie von weitem sehen, in der Nähe, in ihren geheimesten Wendungen, auf das lebhafteste schildere, und daß wir sie dadurch auf das deutlichste in uns selbst empfinden, so daß jede gute und heilsame Regung auf eine dauerhafte Weise dadurch erwekt werden kann.

Die Griechen hatten ungemein vielerley Arten des lyrischen Gedichtes, deren jeder, sowol in Ansehung des Inhalts, als der Form, ein genau ausgezeichneter Charakter vorgeschrieben war. Doch können sie in vier Hauptarten eingetheilt werden: den Hymnus, die Ode, das Lied, und die Idylle; wenn man nicht noch die Elegie dazu rechnen will, deren Inhalt in der That lyrisch ist. Aber jede dieser Hauptarten, hatte wieder ihre verschiedene Unterarten, die wir aber, da die Sache für uns nicht wichtig genug ist, nicht herzählen, sondern [727] den Leser auf Vossens Poetik und die im Art. Lied angeführte Abhandlung des La Nauze verweisen.

1S. Gesang.
2I componimenti lirici sene ritratti di particolari affetti, costumi, virtu, vizj, genj e fatti: overo sono specchj, da cui per varj riflessi traluce l'umana Natura, Ragion poetica. L. I. c, 13.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 726-728.
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