Reiz

[973] Reiz. (Schöne Künste)

Wir nehmen dieses Wort in der Bedeutung, für welche verschiedene unsrer neuesten Kunstrichter das Wort Grazie brauchen. So viel ich weiß, hat Winkelmann es zuerst gebraucht,, um eine besondere Art, oder vielleicht nur eine gewisse Eigenschaft des Schönen in sichtbaren Formen auszudrüken. Seitdem ist viel von der Grazie, nicht blos als einer Eigenschaft der sichtbaren Formen, sondern auch der Gedanken, der Phantasien, der Empfindungen und der Handlungen gesprochen worden.

Wenn nun gleich die ersten, die sich dieses Ausdruks bedient haben, etwas in ihren Empfindungen würklich vorhandenes, und mehr oder weniger bestimmtes, dadurch mögen angedeutet haben; so ist doch zu besorgen, daß bey unsrer immer höher steigenden Scholastik des Gefühles, das Wort Grazie das Schiksal manches metaphysischen Schulworts erfahren könnte, dessen Bedeutung Niemand errathen kann, das aber dessen ungeachtet, von denen fleißig gebraucht wird, die sich das Ansehen geben, [973] als könnten sie Dinge erklären, die kein anderer Sterblicher erklären kann.

Ohne mich in die Tiefen des feinen Gefühles der in allen Geheimnissen der Kunst eingeweyheten Virtuosen und Kenner einzulassen, will ich versuchen, auf eine verständliche und ungekünstelte Weise zu sagen, was für Eindrüke ich von verschiedenen Arten ästhetischer Gegenstände, würklich empfinde, die dem zuzuschreiben seyn möchten, was die Kunstrichter die Grazie nennen, und was ich unter den Namen Reiz verstehe.

Vorher aber will ich anmerken, daß die Grazie von denen, die sie zuerst als eine absönderliche Eigenschaft der Schönheit bezeichnet haben, blos der weiblichen Schönheit zugeeignet worden. Schon zu Homers Zeiten, waren die Grazien als beständige Begleiterinnen und Aufwärterinnen der Venus bekannt,1 und berufen, diese Göttin der Schönheit und Liebe mit besonderen Reizungen zu schmüken. Vermuthlich erst lange nachher wurd das Gebieth ihrer Herrschaft allmählig weiter ausgedähnt, bis endlich nicht blos das schöne Geschlecht, sondern auch Dichter, Philosophen, Staatsmänner, kurz alles, was durch irgend eine besondere Art zu sprechen und zu handeln sich angenehm zu machen wünschte, den Grazien opferte, um ihren Beystand zu erhalten.2

Dieses kläret uns einigermaaßen das ganze Geheimnis auf. Ein gewisser Grad des Gefälligen und Anmuthigen, das die Zuneigung aller Herzen gewinnt, das uns für Personen, Handlungen, Reden und Betragen völlig einnihmt, muß als eine Würkung der Grazien angesehen werden. Sehen wir also die Grazie, oder um Deutsch zu sprechen, den Reiz, als eine gewissen Gegenständen inhaftende Eigenschaft an, so wird uns durch die vorhergehenden Bemerkungen, die Würkung dieser Eigenschaft bekannt, und kann uns das Nachforschen über ihre Natur und Beschaffenheit erleichtern.

Nicht jede Schönheit, nicht jede das Gefühl erwekende Vollkommenheit, würket die innige Zuneigung und Gewogenheit, die man in dem engern Sinn Liebe nennt, und die allemal eine gewisse Zärtlichkeit in sich schließt. Man sieht schöne Personen, deren Gestalt großes Wolgefallen ohne merkliche Zuneigung erwekt. Man fühlet die besten Verhältnisse und das schönste Ebenmaaß der Form, und die untadelhafte Gestalt; das Aug verweilet mit Vergnügen und Wolgefallen darauf: aber alle Würkung dieser Schönheit scheinet blos in einer Belustigung der Phantasie oder der Sinnen zu bestehen, sie erweket nichts von dem süßen mit Verlangen verbundenen, tief in dem Herzen sizenden Gefühl. Es fehlet dieser Schönheit an Reiz, sie ist eine Venus, ehe die Grazien in ihren Dienst gekommen.

Bisweilen siehet man auch Schönheit mit Hoheit verbunden, die Hochachtung und Ehrfurcht erwekt; eine Schönheit wie Juno und wie Minerva sie besaßen. Dort kündiget sie die Königin der Götter, hier die Göttin der Weißheit, des Verstandes und des Verdienstes an. Ihr Anblik erweket Bewundrung und Verehrung, zu ernsthafte Regungen, als daß das Herz sich dabey irgend einen zärtlichen Wunsch erlaubte. Hier ist aller Reiz in Größe und Hoheit übergegangen. Die Grazien sind nicht vornehm genug, diese Hoheit zu begleiten. Wenn Juno reizend seyn will, muß sie etwas von ihrem Ernst ablegen, und den Gürtel der Venus auf eine Zeit borgen.

Nicht anders verhält es sich mit jeder andern Art des sinnlich Vollkommenen. Unter den verschiedenen Menschen, mit denen wir umgehen, finden sich solche, deren Betragen in jeder Absicht grosses Wolgefallen erweket; man findet sie in allem, was sie thun, und in der Art, wie sie es thun, untadelhaft und unverbesserlich, und schöpfet deswegen Vergnügen, aus ihrem Umgange. Aber noch stellet sich dabey die zärtliche Empfindung, die tief im Herzen Wunsch und innige Zuneigung hervorbringt, nicht ein. Auf der andern Seite sehen wir hochachtungswürdige Menschen, an denen alles groß, aber mit Ernst und Hoheit verbunden ist. Der Umgang weder mit der einen, noch mit der andern Art solcher Menschen, hat das, was man eigentlich das Reizende des Umganges nennt. Dieses stellet sich nur da ein, wo wir bey dem ganzen Betragen vorzügliche Annehmlichkeit empfinden; die im eigentlichsten Sinn einnehmend ist.

So gehören zu einer dieser drey Gattungen, alle gute Schriftsteller, alle gute Künstler mit ihren Werken; und jedes gute Werk der Kunst hat entweder blos gemeine untadelhafte Schönheit, oder diese mit Reiz verbunden, oder endlich Hoheit und Größe. Tiefere Geheimnisse habe ich in dem, was man von der Würkung der Grazie sagt, nicht entdeken können. Es kann wol seyn, daß einige nur [974] einen sehr hohen Grad des Reizes, der Grazie zuschreiben. Aber Plato scheinet auch blos ein gefälliges und angenehmes Wesen, wobey man eben nicht in Entzükung geräth, für eine Wükung der Grazien gehalten zu haben. Denn da er dem Xenokrates, der in seiner Art etwas Strenges und Steifes hatte, den Rath giebt, er soll den Grazien Opfer bringen; so verstund er es vermuthlich nicht so, daß er seinen Schüler dadurch in einem Aristippus, oder in seinen Manieren in einem Alcibiades verwandelt zu sehen wünschte. Diese Anmerkungen ziehlen darauf, daß man erkenne, alle Arten ästhetischer Gegenstände seyen des Reizes fähig, und äußern ihn durch einen merklichen Grad der Annehmlichkeit, wodurch wir in solche Gegenstände gleichsam verliebt werden, so daß es eine Art feiner Wollust des Geistes ist, die Eindrüke derselben zu genießen, bey der wir aber nicht so, wie von der Größe und Hoheit in Bewundrung, oder Ehrfurcht gesezt werden. Wir schreiben den Liedern eines Anakreons, und den Gesprächen eines Xenophons Grazie; aber den Oden des Pindars, und den Reden des Demosthenes, Hoheit zu.

Es wäre ein zu kühnes, und vielleicht auch ohnedem in Absicht auf den Nuzen nicht sehr erhebliches Unternehmen, wenn man die nähere Beschaffenheit des Reizenden, in jeder Gattung der ästhetischen Gegenstände, genau zu zergliedern suchte. Der Liebhaber, der nur etwas von feinem Gefühl hat, empfindet es leicht; und wenn man den Künstler, dessen Genie weder bloß auf das Große und Strenge bestimmt, noch blos auf schlechte Richtigkeit und Wahrheit geht, überhaupt vermahnet, er soll bey allen seinen Werken wol Acht haben, ob sie in ihrer Art, Annehmlichkeit und Lieblichkeit vertragen, und, wo sie statt haben, besondere Rüksicht darauf nehmen, so hat man ihm ohngefehr alles gesagt, was sich hierüber verständlich und bestimmt sagen läßt.

Denn dieses, was dem Künstler in dieser Absicht am nöthigsten ist, daß er alle Gegenstände seiner Kunst, sowol in der Natur, als in den Werken andrer Künstler, mit genauer Aufmerksamkeit betrachten, die eigentliche Art und den Charakter eines jeden richtig fassen soll, versteht sich von selbst. Durch eine solche Betrachtung aber wird er, wenn er das Gefühl dazu hat, das blos Schöne, das Reizende und das Große, von selbst entdeken, und gehörig von einander unterscheiden. Dieses Gefühl wird ihm ferner von der näheren Beschaffenheit des Reizenden mehr anzeigen, als die mühesameste Entwiklung desselben, ihn lehren würde. Wer wird es unternehmen, einem Menschen von etwas feinem Gefühl für die Schönheiten des Gesanges, ausführlich zu zeigen, worin das Reizende in den süßen Gesängen eines Grauns bestehe? Oder wer wird sich unterstehen die Lieblichkeit der Lieder eines Anakreon oder Petrarcha, oder Metastasio zu zergliedern? Dem Mahler das Colorit eines Titians, oder die Zeichnung eines Raphaels und Guido, dem die Grazien vorzüglich hold gewesen, ausführlich zu beschreiben? Besser kommt man zum Zwek, wenn man sagt: Sing und horche; lies und empfinde; sieh und fühle – und denn sing, und lies, und siehe wieder, und mache dir ein tägliches Geschäfte daraus: dadurch wirst du dich mit den Grazien deiner Kunst bekannt machen.

1Odyß. VIII B. vs. 364 u. dessen Hymnus auf die Venus.
2S. Wielands Grazien V. Buch.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 973-975.
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