Expropriation

[711] Expropriation heißt nach dem Lateinischen überhaupt die Handlung, wodurch Jemand außer Besitz seines Eigenthums gesetzt wird, insbesondere versteht man aber darunter die gezwungene Abtretung von Grundeigenthum zu öffentlichen Zwecken. Nun kann zwar nach rechtlichen und vernünftigen Grundsätzen Niemand gezwungen werden, sein Eigenthum zu veräußern, es kann aber gleichwol Fälle geben, wo dies zum Wohle des Staats und zum allgemeinen Besten nothwendig ist, um Privatwillkür, Eigennutz und Gewinnsucht zu verhindern, die wohlthätigsten Einrichtungen zu vereiteln. Der Staat hat deshalb auch nie angestanden, in solchen Fällen dem Willen des Eigenthümers Zwang aufzuerlegen, [711] und es ist schon in frühern Zeiten die Verpflichtung der Staatsbürger zur Abtretung ihres Eigenthums für öffentliche Zwecke, z.B. bei der Anlegung von Chausseen, gesetzlich ausgesprochen. In allen civilisirten Staaten aber hat eine auf Recht und Billigkeit gestützte Gesetzgebung zu gleicher Zeit die Nothwendigkeit der völligen Entschädigung des Eigenthümers anerkannt und blos unter dieser Voraussetzung und bei unzweifelhaft dargethaner Nützlichkeit und Wohlthätigkeit der Einrichtung für das Gemeinwesen, durch welche eine solche Beeinträchtigung der Eigenthumsrechte hervorgerufen wird, läßt sich dieselbe rechtfertigen. Wenn der Staat schon bei Einrichtungen, die er selbst zum allgemeinen Besten ins Leben ruft, mit großer Behutsamkeit zu Werke gehen und jede Rechtskränkung von Privaten möglichst abzuwenden suchen muß, so ist er zu einer strengen Prüfung solcher Unternehmungen um so mehr verpflichtet, welche nicht ohne gezwungene Abtretungen von Eigenthum möglich sind, aber von einzelnen oder zu einer Gesellschaft vereinigten Privatpersonen ausgehen, die nicht blos das öffentliche Wohl, sondern zugleich ihren Vortheil dabei im Auge haben und haben dürfen. Dahin gehören in der neusten Zeit namentlich die Anlage von Kanälen und Eisenbahnen (s.d.), welche bei dem wachsenden Bedürfniß der Vermehrung und Verbesserung der Verbindungsmittel nicht blos in vielen Fällen nützlich, sondern selbst nothwendig sein kann. Die Begünstigung der Expropriation ist daher solchen Unternehmungen in geeigneten Fällen auch bereits in Nordamerika, England, Frankreich, Belgien und auch in Deutschland von einsichtsvollen Regierungen und Volksvertretern zugestanden worden, und es sind in der jüngsten Zeit in mehren Staaten besondere Expropriationsgesetze erschienen, welche die Bedingungen und Formen feststellen, unter denen die gezwungene Abtretung des zur Ausführung solcher Unternehmungen nöthigen Eigenthums stattfinden soll. Um aber die Vortheile solcher Gesetze bei dem Baue eines Kanals oder einer Eisenbahn zu genießen, müssen die Unternehmer zuvörderst der Staatsregierung über die Ersprießlichkeit ihrer beabsichtigten Anlage für das Gemeinwohl, über die Ausführbarkeit, die zureichenden Mittel über die gewählte Richtung (Tract oder Zug) und was sonst von Belang ist, die umfänglichsten Nachweise ertheilen. Erhält nach Prüfung derselben das Unternehmen die Billigung der betreffenden Behörde, so spricht diese die Anwendung eines bereits vorhandenen Expropriationsgesetzes auf dieselben aus oder erläßt in Ermangelung eines anwendbaren ein eignes Gesetz für diesen Fall. In solchen Gesetzen wird zunächst die Nothwendigkeit der Abtretung gegen volle Entschädigung ausgesprochen und auch wol, z.B. beim Bau einer Eisenbahn, auf dazu nöthige Baumaterialien, wie Sand, Steine, Erde zum Auffüllen u.s.w. ausgedehnt; ebenso wird den Unternehmern die vorübergehende Anlage von Zufuhrwegen gestattet. Wegen Plätze mit Gebäuden pflegt dem Eigner anheimgestellt zu werden, ob er die letztern selbst abtragen oder mit dem Platze veräußern will; desgleichen bleibt ihm die Wahl, ob er mit der Reise nahen Feldfrüchten oder Holz bestandene Grundstücke selbst abernten und abräumen oder Alles zusammen loszuschlagen gesonnen ist. Über die Festsetzung der Entschädigung bedarf es ferner der umfänglichsten Bestimmungen, indem dabei die Größe, dermalige Beschaffenheit, der Ertragswerth des Grund und Bodens, die Beziehung des Abzutretenden zu dem übrigen, dem Eigenthümer verbleibenden Besitzthum und die etwaige Verminderung des Werthes des Grundstücks, wenn dasselbe durch den Verlust eines Theils nach Anlegung, z.B. einer Eisenbahn, beschwerlicher und kostspieliger bewirthschaftet werden muß, sorgfältig zu berücksichtigen und überhaupt auf jeden Nachtheil Obacht zu nehmen ist, der aus der Abtretung für den bisherigen Besitzer entspringt, sowie auch auf den vorübergehenden Schaden an dem unmittelbar anstoßenden Grund und Boden während des Baus der Eisenbahn. Endlich müssen die Behörden bestimmt werden, welche bei der Vermittelung des ganzen Geschäfts mitzuwirken und zunächst zu entscheiden haben, wenn über eine Abtretung keine gütliche Übereinkunft zu Stande kommt. Will sich aber eine der Parteien bei ihrem Ausspruch nicht beruhigen, so bleibt ihr der gewöhnliche Rechtsweg offen, was jedoch die Abtretung selbst nicht hindert, sowie auch sofort die Entschädigungssumme erlegt werden muß. Die Kosten des Verfahrens im Verwaltungswege haben stets die Unternehmer, dagegen die Kosten des rechtlichen Verfahrens die im Rechtswege Unterliegenden zu tragen.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 711-712.
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