Panpsychismus

[68] Panpsychismus (pan, psychê) Allbeseelungs-Lehre, die Ansicht, nach welcher alles, das All beseelt, lebendig, seelisch ist, entweder actuell oder doch potentiell. Der Panpsychismus betrachtet die Grenze zwischen Lebendem und »Totem«, Organischem und Anorganischem als eine fließende, nicht als absolut. Er kennt nur Grade der Beseeltheit, nichts absolut Apsychisches, wenn auch nicht alles ein Bewußtsein im Sinne klarer Apperception (s. d.) und Selbstbewußtsein hat. Der Panpsychismus tritt auf als primitiver Animismus (s. d.), als realistischer Panpsychismus (Hylozoismus, s. d.) und idealistischer Panpsychismus (s. Spiritualismus), ferner als monadologischer (s. d.) und pantheistischer Panpsychismus (s. Weltseele).[68]

Den Panpsychismus lehrt schon Thales (ton lithon ephê psychên echein, hoti ton sidêron kinei, Aristot., De an. I 2, 405 a 20. Diog. L. I, 24, 27. s. Hylozoismus). So auch ANAXIMENES (s. Hylozoismus), ARCHELAUS (vgl. SIEBECK, Gesch d. Psychol. I 1, 93), PARMENIDES (Theophr., De sensu 3, Dox. 500), HERAKLIT: panta psychôn einai kai daimonôn plêrê (Diog. L. IX 7), EMPEDOKLES: hapanta methexei tou phronein (Theophr., De sens. 23. Aristot., De an. I 3, 406b 15). PLATO nennt die Gestirne sichtbare Götter, die Welt einen seligen Gott, ein zôon empsychon (Tim. 30 B, 46 C, 48 A. Phaedo 98 B. Theaet. 176 C. Leg. 677 A). Den Pflanzen schreibt eine Seele (s. d.) ARISTOTELES zu. Die Stoiker nehmen an, daß in allem logoi spermatikoi (s. d.) seien. Das Pneuma (s. d.) ist materiell und vernünftig zugleich. Sie erklären: »Nihil, quod animi quodque rationis est expers, id generare ex se potest animantem compotemque rationis. Mundus autem generat animantes compotesque rationis. Animans est igitur mundus composque rationis« (CICERO, De nat. deor. II, 8). Nach PLOTIN ist das All durch und durch belebt (Enn. VI, 7, 11 squ.. III, 2, 3). Nach SIMPLICIUS haben die Gestirne eine empfindende Seele.

Die Manichäer halten alles für empsycha, nehmen eine Weltseele (s. d.) an (August., De vera rel. IX, 16. De nat. bon. 44). Ähnlich AVICENNA, AVERROËS.

Die Naturphilosophie der Renaissance ist meist panpsychistisch. Nach PARACELSUS ist alles lebendig, alles hat einen »spiritus«, die Welt ist ein Lebewesen. Nach CARDANUS haben alle Körper »propriam et veram vitam«, auch die Elemente (De subtil. V, Opp. III, 374, 439 ff.). So auch nach J. B. VAN HELMONT (De magnet. 136 ff., 774 ff.). Nach PATRITIUS ist die ganze Welt beseelt (Pampsychia IV, 54 ff., V, 58). Die »nova de universis philosophia« zerfällt in: Panaugia (Alllicht), Panarchia (Allherrschaft), Pampsychia, Pankosmia (Allordnung). Nach TELESIUS haben alle Dinge einen »sensus«. Wärme und Kälte, die Principien der Dinge, haben einen »appetitus« (Streben) (De nat. rer. I, 9 f.). CAMPANELLA erklärt: »omnem naturam sentire affirmandum est« (De sensu rer. I, 1. 13). Auch die Elemente haben Empfindung (ib.), es besteht zwischen ihnen ein Kampf (l. c. I, 4). Empfindend sind auch Sonne und Erde, alles, was aus den Elementen entsteht (l. c. I, 5. Univ. philos. VI, 7, 6). – Nach F. M. VAN HELMONT ist jeder Körper im Innern Geist, aber »finster«- (Opuscul. philos, I, 6 ff.). Ein vorstellendes Princip ist in allem (l. c. I, 7 f.). Nach G. BRUNO ist Geist in allen Dingen, alles ist lebendig oder lebensfähig (De la causa II).

F. BACON meint: »Ubique... est perceptio« (De dignit. IV, 3). Nach SPINOZA sind die Dinge alle »quamvis diversis gradibus, animata«, »nam cuiuscumque rei datur necessario in Deo idea« (Eth. II, prop. XIII, schol.). Jedem modus (s. d.) der Ausdehnung entspricht in der einen Substanz (s. d.) ein modus der »cogitatio«. Panpsychistische Elemente haben die Lehren von GLISSON, H. MORE, R. CUDWORTH (s. Monade, Plastische Natur). Panpsychist ist LEIBNIZ (s. Monade). »Chaque portion de la matière peut être conçue comme un jardin plein de plantes, et comme un étang plein de poissons. Mais chaque rameau de la plante, chaque membre de l'animal, chaque goutte de ses humeurs est encore un tel jardin ou un tel étang« (Monadol. 67). Das Universum ist durchaus belebt, weil in allem »Entelechien« sind (l. c. 68 f.). Hylozoisten sind MAUPERTUIS, DIDEROT, ROBINET, GOETHE.

SCHELLING erklärt: »Alles im Universum ist beseelt« (WW. I 6, 217). Nach[69] SCHOPENHAUER ist alles an sich Wille (s. d.). H. RITTER bemerkt: »Was... wir die tote Natur nennen, ist im äußersten Falle nur die noch nicht zu erkennbarem Leben erwachte Natur« (Syst. d. Log. u. Met. I, 294, 298). Nach ROSMINI sind alle Atome beseelt. nach GIOBERTI hat alles Leben (Protolog. II, 554). Nach FECHNER ist die ganze Natur von göttlichem Geiste beseelt (Zend-Av. I, 294). Es gibt eine »Allbeseelung« (Vorr. I, S. VI). Die »Tagesansicht« (s. d.) sieht in allem Leben, Seele, auch in den Planeten (Tagesans. S. 29 ff., 33 f.. Üb. d. Seelenfr. S. 184). Auch die Pflanzen sind beseelt (Nana). Ein Nervensystem ist nicht unbedingt notwendig als Träger der Beseeltheit (ib.). Nach LOTZE ist alles beseelt, alles besteht aus Monaden (s. d.) (Med. Psychol. S. 131 ff., Mikrok. I, 407 f.. III, 525). E. v. HARTMANN schreibt auch den Atomen (s. d.) einen (unbewußten) Willen zu. Nach R. HAMERLING ist Leben überall (Atomist. d. Will. I, 281), so auch nach VENETIANER, BAHNSEN, C. PETERS, MAINLÄNDER, WUNDT (s. Voluntarismus), PAULSEN (Einf. in d. Philos.), L. NOIRÉ (s. Hylozoismus), L. GEIGER (Urspr. d. Sprache), O. CASPARI, welcher Monaden als Glieder von »Synaden« (s. d.) annimmt (Kosmos I, 277 ff., 459 ff.. Zusammenh. d. Dinge S. 36, 422, 430, 452 ff.), J. TYNDALL, J. LACHELIER, FOUILLÉE, IZOULET (La cité moderne 1894), LE DANTEC (s. Hylozoismus), A. KOSLOW, P. CARUS (Met. S. 24. Fundam. Probl.2, 1894), H. WOLFF (Kosmos), HÖFFDING (Psychol.2, S. 71 f., 111), VERWORN (Allg. Physiol. S. 45), ILARIU-SOCOLIU (Grundprobl. d. Philos. S. V f.), HEYMANS (Zeitschr. f. Psychol. Bd. 17, S. 80 ff.), ADICKES (Kant contra Haeckel S. 66), W. BÖLSCHE (Liebesleb. 2. Folge, S. 394), P. J. MOEBIUS (Stöchiologie 1901) u. a. NÄGELI schreibt den Molekülen Lust und Unlust zu, er hält alles für belebt (Üb. d. Schrank. d. naturwiss. Erk.), auch ZÖLLNER (Üb. d. Nat. d. Komet. S. 105), HERING, PREYER (s. Hylozoismus, Gedächtnis), E. HAECKEL (Natürl. Schöpf.6, S. 20 f.. s. Plastidule). – Nach RIEHL ist der Panpsychismus »eine reine Speculation, für welche die psychophysischen Tatsachen keine Handhabe bieten«. »Der Dichter mag die Dinge ringsum beseelen. als Denker aber sollten wir aufhören, von einem Lieben und Hassen der Elemente und von Atomempfindungen zu träumen« (Zur Einf. in d. Philos. S. 161 f.). Vgl. Liebe, Seele, Weltseele, Hylozoismus, Voluntarismus, Introjection, Parallelismus, Identitätsphilosophie, Spiritualismus, Monade.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 68-70.
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