Sensualismus

[357] Sensualismus (sensus, Sinn, Empfindung): Sinnlichkeitsstandpunkt, d.h. diejenige erkenntnistheoretische Sichtung, welche alle Erkenntnis aus Empfindungen, Impressionen, aus sinnlichen Erlebnissen ableitet, nach welcher die Erkenntnis in Inhalt und Form letzten Endes ein Product der Sinnesfunctionen und ihrer Weiterentfaltung ist und oft auch eine die sinnliche Erfahrung überschreitende Erkenntnis negiert wird. Alle Wirklichkeit ist durch die Sinne, in Empfindungen und daraus abgeleiteten Vorstellungen gegeben. Der Sensualismus faßt in der Regel die Seele als »tabula rasa« (s. d.) auf, berücksichtigt nicht die Spontaneität (s. d.) des Bewußtseins und das in den Formen (s. d.) des Denkens gelegene Apriori (s. d.) der Erkenntnis, die Bedeutung der normativen und regulativen Function der Ideen und Ideale (s. d.). Er vergißt oft, daß die Empfindungen (s. d.) für die objective Erkenntnis nicht das eigentliche Object, sondern nur ein Mittel des Erkennens sind, daß ferner die »Empfindungen« als solche, d.h. als elementare Inhalte nichts »Gegebenes«, sondern schon das Product einer abstrahierenden Analyse des Denkens sind. Der praktische, ethische Sensualismus erblickt in der Sinneslust, im subjectiven Wohlergehen, im Genusse das eigentliche Motiv und Ziel des ethischen (s. d.) Handelns (s. Hedonismus).

Nach ARISTIPPUS erkennen wir nicht das Ding an sich (s. d.), sondern nur unsere Empfindungsinhalte (vgl. Plat., Theaet. 166). Als eine leere Tafel, die erst durch sinnliche Wahrnehmung sich mit Zeichen erfüllt, betrachten den Geist die Stoiker: Hoi Stôikoi phasin. hotan gennêthê ho anthrôpos, echei to hêgemonikon meros tês psychês hôsper chartên euergon (energon) eis apographên. eis touto mian hekastên chartên tôn ennoiôn enapographetai (Plut., Plac. IV, 11. Dox. 400). Sensualistisch lehrt EPIKUR: hai epinoiai pasai apo tôn aisthêseôn gegonasi ... pas gar logos apo tôn aisthêseôn êrtêtai, alle Begriffe haben sinnlichen Ursprung (Diog. L. X, 32). tên de aisthêsin analêptikên ousan[357] (Sext. Empir. adv. Math. VII, 210. VIII, 9). »Quicquid animo cernimus, id omne oritur a sensibus« (De fin. I, 64).

ORIGENES erklärt, aisthêsei katalambanesthai ta katalambanomena kai pasan katalêpsin êrtêsthai tôn aisthêseôn (Contr. Cels. VII, 37). Nach ARNOBIUS muß der Geist eines von Geburt einsamen Menschen leer bleiben (Adv. gent. II, 20 ff.). Das »nihil est in intellectu, quod non sit prius in sensu« spricht schon THOMAS aus (De verit. II, 3). Von der »tabula rasa« (s. d.) sprechen AEGIDIUS ROMANUS, ERASMUS u.a.

Nach CAMPANELLA ist die Empfindung der Anfang aller Erkenntnis (Physiol. XVI, 1. vgl. De sensu rer. II, 22). »Omnes sensus simul causant totius rei cognitionem« (Univ. philos. I, 4, 4). »Duce sensu philosophandum esse existimamus. Eius enim cognitio omnis certissima est, quia fit obiecto praesente« (Prodrom. p. 27). Nach F. M. VAN HELMONT gleicht der kindliche Geist einem weißen Blatte. »Humana omnis scientia ex sensu primitus oritur« (vgl. Ritter XII, 10 f.).

Den Wert der Sinne für die Erkenntnis betont F. BACON (Nov. Organ I, 41). Nach HOBBES entspringt alle Erkenntnis aus den Empfindungen. »Nulla enim est animi conceptio, quae non fuerat ante genita in aliquo sensuum, vel tota simul, vel per partes. Ab his autem primis conceptibus omnes postea derivantur« (Leviath. I, 1). Auch nach GASSENDI entspringt jede Idee aus den Sinnen. Die Seele ist eine leere Tafel (Opp. III, 318. Inst. Log. I). MONTAIGNE erklärt: »Toute connaissance s'achemine en nous par les sens. en sont nos maîtres. – La science commence par eux et se resout en eux... Les sens sont le commencement et la fin de l'humaine connaissance« (Ess. II, 12). – LOCKE bezeichnet den Geist als ursprünglich gleich einem »white paper«. Alle Erkenntnis stammt aus »sensation« und »reflection« (Ess. II, ch. 1, § 2 ff.). Nichts ist in unserem Intellect, was nicht auf äußere oder innere Erlebnisse zurückzuführen ist. Der Geist hat aber die empirisch gewonnenen einfachen Vorstellungen mannigfach zu verknüpfen (l. c. § 5. s. Erfahrung). (Gegen Locke erklärt sich LEIBNIZ, s. Erkenntnis, Rationalismus.) Auf »impressions« (s. d.) und ihre Verarbeitung führt HUME die Erkenntnis (s. d.) zurück. »All die schöpferische Kraft der Seele ist nichts weiter als die Fähigkeit, den durch die Sinne und die Erfahrung gegebenen Stoff zu verbinden, umzustellen oder zu vermehren... Kurz aller Stoff des Denkens ist von äußeren oder inneren Wahrnehmungen abgeleitet. nur die Mischung und Verbindung gehört dem Geist und dem Willen oder... alle unsere Vorstellungen oder schwächeren Empfindungen und Nachbilder unserer Eindrücke oder lebhaften Empfindungen« (Inquir. sct. 2). Psychologisch begründet den Sensualismus CONDILLAC. »C'est... des sensations que naît tout le système de l'homme« (Extr. rais. p. 35). »La sensation devient successivement attention, comparaison, jugement« und réflexion (l. c. p. 38). »Du désir naissent les passions, l'amour, la haine, l'espérance, la crainte, la volonté. Tout cela n'est donc encore que la sensation transformé« (l. c. p. 40). »La sensation enveloppe toutes les facultés de l'âme« (Tr. d. sens. I, ch. 7, § 2), Leben ist Genießen (l. c. IV, ch. 9, § 2). Der Mensch verhält sich wie eine allmählich von außen belebte Statue. Sensualisten sind mehr oder weniger auch BONNET (Ess. anal. p. 14), HOLBACH, HELVETIUS, LAMETTRIE u.a. CABANIS bemerkt: »La sensibilité physique est la source de toutes les idées« (Rapp. I, 85. Reaction gegen den Sensualismus in Frankreich bei M. DE BIRAN, JOUFFROY, ROYER-COLLARD, COUSIN u.a.). – Den sinnlichen Ursprung der [358] Vorstellungen lehrt RÜDIGER. AD. WEISHAUPT erklärt: »Unser ganzer Verstand und Vernunft, alle unsere höhere Kenntnis gründet sich... auf Empfindungen, auf den Gebrauch der Sinne.« Die Empfindungen und die Sinne sind »die Vorratskammer, aus welcher der Verstand schöpft. diese liefern ihm alle rohen Materialien, welche sein Fleiß noch weiter bearbeiten soll« (Üb. Mat. u. Ideal. 61. 78 f.).

L. FEUERBACH lehrt: »Nur durch die Sinne wird ein Gegenstand im wahren Sinne gegeben« (WW. II, 321). »Der Geist folgt auf den Sinn, nicht der Sinn auf den Geist. der Geist ist das Ende, nicht der Anfang der Dinge« (l. c. S. 236), L. KNAPP betont: »Alles Denken ist,.. nur Vorstellen der empfundenen Sinnlichkeit, also insofern der Wirklichkeit, da es keine Empfindungselemente, d.h. keine einfachen Sensationen erfinden kann« (Syst. d. Rechtsphilos. S. 13). Das reine ist das »streng sinnliche Denken« (l. c. S. 13). alle Erkenntnis ist eine sinnliche, alles übrige Erkennenwollen ist Einbildung (l. c. S. 20). Es gibt keine »aprioristischen Gedanken« (l. c. S. 20). Ähnliche Anschauungen bei R. AVENARIUS, E. MACH u.a. (s. Erfahrung). – Aus der Sinneswahrnehmung leitet die Erkenntnis CZOLBE ab (Neue Darstell. d. Sensual. S. 4 ff.). Alle, auch die höchsten psychischen Vorgänge setzen sich nur aus Empfindungen und Gefühlen, ohne eine außerdem bestehende Seele, zusammen (Gr. u. Urspr. d. m. Erk. S. 224).

Gegner des Sensualismus sind der Rationalismus (s. d.), Kriticismus (s. d.) und kritische Empirismus (s. d.). BIUNDE betont, »daß alle Erfahrung das Denken nicht erfahrbarer Verhältnisse und Gegenstände sowohl im Verstande als in der Vernunft nur veranlasse, und zwar dadurch, daß sie einen Stoff liefert, welchen diese beiden Vermögen selbständig und eigenmächtig bearbeite?, einen Stoff, welcher vor dieser Bearbeitung von seiten des Subjectes für das Subject ein confusum chaos ohne Ordnung und ohne Licht bildet« (Empir. Psychol. I 2, 260). Glanz ähnlich lehren Neukantianer (s. d.) wie H. COHEN, P. NATORP P. STERN (Probl. d. Gegeb. S. 13 ff., 28 ff.) u.a. – HEGEL bemerkt: »Nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu« (Encykl. § 8). Nach J. H. FICHTE ist der Geist schon im Sinne gegenwärtig (Psychol. I, 261). Nach FOUILLÉE ist das Wahre im Sensualismus, daß »tous les faits de consciente sont sensitifs par quelque coté« (Psych. d. id.-forc. I, 298). Es gibt kein reines Denken (l. c. p. 301. Die »sensation« ist schon intellectuell, ein Rudiment des Gedankens (ib.). H. CORNELIUS bemerkt: »Tatsächlich baut sich... unser Weltbild weder ausschließlich aus den Wahrnehmungen der Sinne, noch auch ausschließlich aus den reinen begrifflichen Formen unseres Denkens a« (Einl. in d. Philos. S. 167 f.). Vgl. über »Sensationalisme« JANET, Psychol. I, 243, 687, II, 5 u. ff. – Vgl. Erfahrung, Empfindung, Sinn, Wahrnehmung, Erkenntnis, Hedonismus, Lust, Ethik, Impression.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 357-359.
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