Spontaneität

[421] Spontaneität: Selbstbestimmbarkeit, Selbstbestimmung, Selbsttätigkeit, Bestimmung aus eigenen Triebfedern, aus den bewußten Zwecken des Ich. Psychologisch – erkenntnistheoretisch ist Spontaneität ein Ausdruck für die Fähigkeit des denkend-wollenden Subjects, aus eigener Kraft, in selbsteigener Tätigkeit seine Erlebnisse (Bewußtseinsinhalte) zu Erkenntnissen zu verarbeiten, seine Handlungen zu lenken und zu beherrschen, im Unterschiede von der Receptivität (s. d.). Spontaneität und Receptivität sind Arten, Grade der Bewußtseinsactivität überhaupt. Die Spontaneität des Denkens ist die formale Quelle der Begriffe als solcher, sie äußert sich im Urteilen und Schließen, in der Methodik des Logischen wie des Ethischen.

LEIBNIZ bestimmt: »Spontaneitas est contingentia sine coactione« (Gerh. VII, 108. vgl. IV, 483). CHR. WOLF definiert: »Spontaneitas est principium sese ad agendum determinandi intrinsecum.« »Actiones dicuntur spontaneae, quatenus per principium sibi intrinsecum, sine principio determinandi extrinseco, agens easdem determinat« (Psychol. empir. § 933). Trotz seines Sensualismus bemerkt CONDILLAC: »Il y a en nous un principe de nos actions que nous sentons, mais que nous ne pouvons définir: on l'appelle force. Nous sommes également actifs par rapport à tout ce que cette force produit en nous ou au dehors. Nous le sommes, par exemple, lorsque nous réfléchissons ou lorsque nous faisons mouvoir un corps« (Trait. d. sens. I, ch. 2, § 11). Nach SEARCHE liegt alle Selbsttätigkeit bloß in den Willensfunctionen (Light of Nature I, ch. 1). Nach PLATNER ist Selbsttätigkeit in den Wirkungen eines Wesens, »wenn sie das Werk seiner selbsteigenen Kraft und Natur sind« (Philos. Aphor. I, § 1010). Die Selbsttätigkeit ist »Herrschaft der Seele über ihre Ideen« (l. c. II, § 550).

Nach KANT bedeutet Spontaneität »das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen«, d. h. den Verstand (s. d.) (Krit. d. rein. Vern. S. 76). Die Spontaneität des Denkens (s. d.) ist die Quelle der Begriffe (s. d.), insbesondere der Kategorien (s. d.). KRUG versteht unter Spontaneität »den Act der Selbstbestimmung überhaupt, unangesehen ob sich das Tätige dabei nach Naturgesetzen richtet oder nicht« (Fundamentalphilos. S. 139). Nach FRIES ist Selbsttätigkeit »jedes unmittelbare Wirken« (Neue Krit. I, 79). – Nach J. G. FICHTE ist die Intelligenz nur tätig, nicht passiv (WW. I 1, 440). – Die Spontaneität der Seele betont u. a. LOTZE (Med. Psychol. S. 88 f.). Nach ULRICI ist Spontaneität[421] das »Nicht-genötigt-sein der unterscheidenden Denktätigkeit im einzelnen Falle, diese ihr gelassene Möglichkeit, unter den Objecten ihrer Wirksamkeit in jedem einzelnen Falle zu wählen und damit beliebig zu bestimmen, welche sie ins Bewußtsein bringen und resp. zurückrufen will« (Log. S. 70). Nach REHMKE gehört Spontaneität nur der wollenden Seele an (Allgem. Psychol. S. 486). HÖFFDING: erklärt: »Im Bewußtsein läßt sich an jedem Punkte eine passive, der Mannigfaltigkeit des Inhalts entsprechende, und eine active, der zusammenfassenden Einheitlichkeit entsprechende Seite nachweisen« (Psychol. S. 64). – Die Activität des Denkens betont LAROMIGUIÈRE (Leçons I, V, XI). Nach V. COUSIN ist die erste Fähigkeit des menschlichen Geistes »l'activité volotaire et libre« (Du vrai p. 30). Keine Perception ohne einen Grad von Aufmerksamkeit (l. c. p. 31). Nach A. FOUILLÉE gibt es zwar keine absolute Spontaneität, aber auch keine reine Receptivität des Bewußtseins (Psychol. d. id.-forc. I, 277). Die Spontaneität des Intellects betont u. a. auch TARDE. – A. BAIN lehrt eine »spontaneous activity« des Nervensystems, die sich triebhaft im Bewußtsein und in Bewegungen äußert. »Energy of the nerve centres themselves« (Ment. and Mor. Sc. I, ch. 1, p. 14). Sie ist »an essential element of the will« (ib.), geht den Empfindungen voraus als innerer Reiz. Die Spontaneität des Bewußtseins betont besonders W. JAMES. Vgl. Activität, Passivität, Willensfreiheit, Synthese.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 421-422.
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