Urteilskraft

[610] Urteilskraft (»vis aestimativa«) oder Beurteilungsvermögen bedeutet bei den Scholastikern die schon dem Tiere zukommende Fähigkeit der Deutung und Wertung der Dinge Nach ihrem Nutzen oder Schaden für den Urteilenden selbst. So nach AVICENNA. Nach ihm gehört die »vis aestimativa« zu den inneren Sinnen (s. Wahrnehmung). Sie ist zu oberst in der mittleren Gehirnhöhlung localisiert und erfaßt »die nicht mit den Sinnen wahrgenommenen begrifflichen Vorstellungen (intentiones) in Bezug auf die einzelnen sinnfälligen Dinge« (De anima II, 2. IV, 3 f.. M. Winter, Über Avicennas Opus egregium de anima S. 31 f.). Nach THOMAS ist die »aestimativa« eine »existimatio naturalis« (Contr. gent. II, 90). SUAREZ definiert: »Aestimativa describitur sensus interior potens apprehendere sub ratione convenientis et disconvenientis« (De an. III, 30, 7). L. VIVES erklärt: »Aestimativa... facultas est, quae ex sensibus speciebus impetum iudicii parit« (De an. I, 33). – Nach[610] FEDER ist die Urteilskraft das Vermögen, nach allgemeinen Begriffen die Verhältnisse der Dinge zu bemerken (Log. u. Met. S. 39).

KANT betrachtet die Urteilskraft als Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft (Krit. d. Urt., Vorrede). Sie ist »das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht« (Krit. d. rein. Vern. S. 139). Die »transcendentale Doctrin der Urteilskraft« enthält »zwei Hauptstücke«: »das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. i. von dem. Schematismus des reinen Verstandes. das zweite aber von denen synthetischen Urteilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfließen und allen übrigen Erkenntnissen a priori zum Grunde liegen, d. i. von den Grundsätzen des reinen Verstandes« (l. c. S. 141). – Zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ist das Gefühl, zwischen Verstand und Vernunft die Urteilskraft. Diese muß auch ein »Princip a priori« enthalten, d.h. eine Quelle nicht empirischer Urteile sein, wie der Verstand (s. Kategorien) und die Vernunft (s. Ideen). Es gibt eine bestimmende und eine reflectierende Urteilskraft. »Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert... bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflectierend.« Ersterer ist das Gesetz a priori vorgeschrieben, letztere bedarf eines Princips, durch welches sie die Natur deutet, wenn auch nicht eigentlich erklärt: des Princips, daß die besonderen Gesetze in Bezug auf das durch die Naturgesetze in ihnen unbestimmt Gelassene so zur Einheit verbunden gedacht werden müssen, als ob ein Verstand sie gegeben hätte, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen. Die Urteilskraft schreibt ein Gesetz der Specification (s. d.) vor (Krit. d. Urt., Einleit.. Üb. Philos. überh. S. 150 ff.). Das Princip der Urteilskraft (der reflectierenden) ist: »Die Natur specificiert ihre allgemeinen Gesetze zu empirischen, gemäß der Form eines logischen Systems zum Behuf der Urteilskraft.« Die Urteilskraft denkt sich dadurch »eine Zweckmäßigkeit der Natur in der Specification ihrer Formen durch empirische Gesetze« (Üb. Philos. überh. S. 155. s. Zweck). »Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben. aber läßt dies gänzlich unbestimmt. Die Urteilskraft verschafft durch ihr Princip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen. Die Vernunft aber gibt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz, a priori die Bestimmung. und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich« (Krit. d. Urt., Einl. IX). Die »Kritik der Urteilskraft« zerfällt »in die der ästhetischen und teleologischen. indem unter der ersteren das Vermögen, die formale Zweckmäßigkeit (sonst auch subjective genannt) durch das Gefühl der Lust oder Unlust, unter der zweiten das Vermögen, die reale Zweckmäßigkeit (objective) der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurteilen verstanden wird« (l. c. VIII). Die teleologische ist eins mit der objectiven reflectierenden Urteilskraft (ib.. vgl. Log. S. 205 ff.). In der ästhetischen[611] Urteilskraft werden »Verstand und Einbildungskraft im Verhältnis gegeneinander betrachtet« (Üb. Philos. überh. S. 157). Ästhetisches Urteil (Geschmacksurteil) ist jenes, »dessen Prädicat niemals Erkenntnis (Begriff von einem Object) sein kann... In einem solchen Urteil ist der Bestimmungsgrund Empfindung«. »Im ästhetischen Sinnenurteil ist es diejenige Empfindung, welche von der empirischen Anschauung des Gegenstandes unmittelbar hervorgebracht wird. im ästhetischen Reflexionsurteile aber die, welche das harmonische Spiel der beiden Erkenntnisvermögen der Urteilskraft, Einbildungskraft und Verstand, im Subjecte bewirkt, indem in der gegebenen Vorstellung das Auffassungsvermögen der einen und das Darstellungsvermögen der andern einander wechselseitig beförderlich sind, welches Verhältnis in solchem Falle durch diese bloße Form eine Empfindung bewirkt, welche der Bestimmungsgrund eines Urteils ist, das darum ästhetisch heißt und als subjective Zweckmäßigkeit (ohne Begriff) mit dem Gefühle der Lust verbunden ist« (l. c. S. 159).

MAASS zählt als Zweige der »sinnlichen Urteilskraft« auf: sinnlichen Witz, Scharfsinn, Erinnerungsvermögen, moralisches Gefühl, gemeinen Menschenverstand, Geschmack (Üb. d. Einbild. S. 116 ff.). – Nach J. G. FICHTE ist die Urteilskraft das »Vermögen, über schon im Verstande gesetzte Objecte zu reflectieren oder von ihnen zu abstrahieren und sie nach Maßgabe dieser Reflexion oder Abstraction mit weiterer Bestimmung im Verstande zu setzen«. Sie bestimmt dem Verstande »das Object überhaupt als Object«. Ohne Urteilskraft gibt es »kein Denken des Gedachten als eines solchen« (Gr. d. g. Wissensch. S. 213 f.). – Nach. E. REINHOLD ist die Urteilskraft jene Seite des Denkvermögens, die wirksam ist, »wo der Inhalt des Urteils nicht sogleich bei der Wahrnehmung des zu subjicierenden Gegenstandes... zufolge der logischen Form unseres bewußtvollen Wahrnehmens und Vorstellens mit intellectueller Notwendigkeit sich ergibt« (Lehrb. d. philos. propäd. Psychol. u. d. formal. Log.2, S. 183 ff.). BOLZANO versteht mit andern unter der Urteilskraft das Vermögen, Urteile zu fällen (Wissenschaftslehre. III, § 290, S. 108 ff.). Nach BENEKE ist die Urteilskraft ein Name für »alle Spuren oder Angelegtheiten, welche, zum Bewußtsein gesteigert, Urteile zu erzeugen geeignet sind« (Lehrb. d. Psychol. § 134). Vgl. MICHELET, Anthropol. S. 417 ff., u. a. – Vgl. Urteil, Zweck, Ästhetik.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 610-612.
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