Dispensation

[49] Dispensation (lat., eigentlich »Abwägung«), die Aufhebung einer Rechtsnorm für einen einzelnen, Fall; daher Dispensationsrecht, die Befugnis, die Anwendung einer Rechtsnorm für einen gegebenen Fall auszuschließen. Es liegt in der Natur der Sache, daß nur diejenige Gewalt von einer gesetzlichen Vorschrift »dispensieren« kann, die dies Gesetz erlassen hat, und daß die Aufhebung eines Gesetzes für einen bestimmten einzelnen Fall nur durch ein anderweites Gesetz unter Mitwirkung sämtlicher Faktoren der gesetzgebenden Gewalt erfolgen kann. Es ist nach richtiger Ansicht deshalb nicht mehr wie ehedem der Landesherr auch ohne besondere gesetzliche Ermächtigung zur D. befugt. Die Verfassungsurkunden der einzelnen deutschen Staaten erwähnen das Dispensationsrecht des Landesherrn regelmäßig nur kurz, ohne dasselbe näher zu bestimmen; insbes. fehlt es in der preußischen Verfassungsurkunde gänzlich an derartigen Bestimmungen. Die Hauptfälle, in denen die Dispensationsbefugnis ausgeübt zu werden pflegt, sind die Erteilung der Volljährigkeit (Majorennisierung, s. Alter) sowie in manchen protestantischen Ländern die Ehescheidung. Die Ausübung dieses letztern Dispensationsrechts, das evangelischen Landesherren als den Häuptern der Staatskirche zusteht, wird regelmäßig unter Mitwirkung der Konsistorien oder Kultusministerien ausgeübt. Im katholischen Kirchenrecht ist das oben entwickelte Prinzip, daß die Dispensationsbefugnis der gesetzgebenden Gewalt korrespondieren müsse, in konsequenter Weise durchgeführt. Dieselbe steht daher in kirchenrechtlichen Angelegenheiten zunächst dem Papst zu. Der Form nach werden die päpstlichen Dispense eingeteilt in Dispensationen in forma gratiosa und in ferma commissoria, je nachdem sie unmittelbar durch die römische Kurie oder durch Vermittelung des Ordinariats, d.h. durch den kompetenten Bischof (ordinarius), erteilt werden. Den Bischöfen selbst steht das Recht zur D. von kirchenrechtlichen Satzungen bloß in Ansehung ihres partikulären Diözesanrechts zu; rücksichtlich des gemeinen Kirchenrechts nur, wenn und soweit ihnen eine Dispensationsbefugnis vom Papst übertragen worden ist. Letzteres geschieht durch die sogen. Facultates (Vollmachten) und zwar regelmäßig nur auf 5 Jahre (Quinquennal-Fakultäten). Soweit von den gesetzlichen Erfordernissen einer Eheschließung D. zulässig, ist die Erteilung derselben in Deutschland nunmehr Sache des Staates. (Vgl. Bürgerliches Gesetzbuch, § 1303, 1312, 1313, 1316.) – In England ist das Dispensationsrecht der Krone durch die Bill of rights für immer beseitigt worden, nachdem dasselbe unter Jakob II. durch systematischen Mißbrauch fast zu einer gänzlichen Beseitigung der alten Landesrechte geführt hatte. Auf dem Gebiete des Strafrechts ist von eigentlicher Dispenserteilung keine Rede; hier tritt das Begnadigungsrecht an deren Stelle (s. Begnadigung). Vgl. Gneist, Englisches Verwaltungsrecht (2. Aufl., Berl. 1867); Gerber in der »Zeitschrift für Staatswissenschaft«, 1871; G. Meyer, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, S. 586 ff. (5. Aufl., Leipz. 1899); Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts, Bd. 3, S. 789 ff.; Stiegler, D., Dispensationswesen und Dispensationsrecht im Kirchenrecht, geschichtlich dargestellt (Mainz 1901, Bd. 1). – In der Medizin heißt D. (Dispensieren) das Verteilen und Ausgeben der Arzneien an die Kranken.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 49.
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