Kirchenrecht

[52] Kirchenrecht (lat. Jus ecclesiasticum, zu unterscheiden von jus canonicum, vgl. Kanonisches Recht), Inbegriff der Rechtsnormen, die für die Rechtsverhältnisse der Kirche (s. d.) als solcher und für diejenigen des einzelnen als Mitglied dieser Gemeinschaft maßgebend sind. Je nachdem es sich dabei um das in den Satzungen einer bestimmten Kirche und in den Gesetzen eines bestimmten Staates enthaltene oder um das aus Begriff und Wesen der Kirche im allgemeinen sich ergebende K. handelt, spricht man von positivem im Gegensatz zu dem natürlichen K. Das positive K. ist seinem Ursprung nach entweder staatliches oder kirchliches Recht. Das staatliche Recht regelt das Verhältnis der Kirche zum Staat und der Kirchengesellschaften untereinander (sogen. Staatskirchenrecht). Die von den kirchlichen Organen ausgehende Gemeinschaftsordnung ist an sich nicht wie die staatliche schlechthin erzwingbar. Die vorreformatorische Kirche allerdings, die nach der Art, wie sie die weltlichen Regierungen beherrschte, über die Exekutivmittel des Staates nicht weniger als dieser selbst gebot, konnte die Erzeugung und Ausbildung ihres Rechts, des sogen. kanonischen, im wesentlichen in derselben Weise, in welcher der weltliche Staat sich eine Rechtsordnung bildet, selbst vermitteln. Auch die heutige römisch-katholische Kirche beansprucht noch für ihre Rechtsbildung die gleiche Selbständigkeit und Wirksamkeit, aber ohne Erfolg (s. Kirchenpolitik). Die protestantischen Kirchen dagegen erheben einen solchen Anspruch nicht, und tatsächlich hat sich ja in ihnen bis in die neueste Zeit die Rechtsbildung ausschließlich durch die landesherrliche Gesetzgebungsgewalt vollzogen (s. Kirchenordnungen). Unter der Garantie der physischen Zwangsgewalt steht demnach heute das kirchliche Recht nur insoweit, als der Staat die kirchlichen Vorschriften mit bürgerlicher Wirkung ausstattet und ihnen seine Zwangsgewalt leiht. Solche Vorschriften finden sich, soweit sie nur die Betätigung des Glaubens betreffen, in der protestantischen und katholischen Kirche, während die letztere auch eine Gesetzgebungsgewalt über den Glaubensinhalt selbst in Anspruch nimmt. Quellen des Kirchenrechts sind Gewohnheitsrechte, Kirchengesetzgebung (s. Kirchengesetze), deren Träger in der katholischen Kirche Papst, bez. Konzil, in der evangelischen Landesherr unter Mitwirkung der Landessynode sind, der katholischen Kirche eigentümliche die Tradition (s. Jus divinum) und die Konkordate. – Das K. als juristische Disziplin hat die Aufgabe, die kirchliche Rechtsordnung zu überliefern und in ihrem innern Zusammenhang aufzuweisen. Nach wissenschaftlicher Sitte zieht es außerdem auch diejenigen Rechtsverhältnisse in den Kreis seiner Betrachtung und Darstellung, in denen die Religionsgesellschaften als Gesamtheiten untereinander und dem Staat gegenüber sich befinden. Es kommt bei ihnen, genauer betrachtet, auf lauter Beziehungen der Kirche zum Staat an, die, soweit die Kirche nach vorreformatorischer oder nach dervon der römisch-katholischen Kirche offiziell noch heute beanspruchten Weise als dem Staat koordinierte und auch ihrerseits staatsartige Macht betrachtet wird, mehr völkerrechtlicher, soweit sie nach heutigen staatsrechtlichen Gesichtspunkten als innerhalb des Staates stehende Korporation behandelt wird, mehr staatsrechtlicher Natur sind. – Den Unterschied zwischen gemeinem und partikularem K. (jus ecclesiasticum commune und particulare) machen die vorreformatorische, die heutige katholische und die lutherische Kirche wesentlich so, wie er im bürgerlichen Recht gemacht wird, nur daß erstere beide Kirchen dem gemeinen Rechte den Vorrang vor dem partikularen einräumen wollen. In der lutherischen Kirche ist die Existenz eines gemeinen Kirchenrechts bestritten. Das kanonische Rechte gilt noch, sofern es nicht ausdrücklich aufgehoben oder mit dem Dogma unvereinbar ist, als subsidiäres Recht. Die reformierte Kirche erkennt im allgemeinen kein Fortgelten des vorreformatorischen Rechts an. Vgl. Maassen, Geschichte der Quellen und der Literatur des kanonischen Rechts (Graz 1870, Bd. 1); v. Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des kanonischen Rechts (Stuttg. 1875–1880, 3 Bde.); Richter, Lehrbuch des Kirchenrechts (8. Aufl., Leipz. 1886); Hinschius, K. der Katholiken und Protestanten in Deutschland (Berl. 1869–1897, Bd. 1–6); Friedberg, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts (5. Aufl., Leipz.[52] 1903); v. Schulte, Lehrbuch des katholischen und evangelischen Kirchenrechts (4., bez. 1. Aufl., Gieß. 1886); Löning, Geschichte des deutschen Kirchenrechts (Bd. 1 u. 2, Straßb. 1878); Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik (Bd. 1, Freiburg 1894); Sohm, Kirchenrecht (Bd. 1, Leipz. 1892); A. Frantz, Lehrbuch des Kirchenrechts (3. Aufl., Göttingen 1899); v. Kirchenheim, Kirchenrecht (Bonn 1900); Schoen, Das evangelische K. in Preußen (Berl. 1903, Bd. 1); Lehrbücher des katholischen Kirchenrechts von Silbernagl (4. Aufl., Regensb. 1902), Sägmüller (Freib. 1900–04, 3 Tle.), Heiner (3. Aufl., Paderb. 1901, 2 Bde.), Groß (4. Aufl., Wien 1903) u. a.; Schiappoli, Manuale del diritto ecclesiastico (Turin 1902, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 52-53.
Lizenz:
Faksimiles:
52 | 53
Kategorien: