Enteignung

[831] Enteignung (Zwangsenteignung, Zwangsabtretung, Entwehrung, Expropriation) ist das Verfahren, durch das jemand im öffentlichen Interesse genötigt wird, ein ihm zustehendes Recht gegen Entschädigung an den Staat oder an eine von der zuständigen Behörde dazu ermächtigte Person abzutreten. Gegenstand der E. ist vorzugsweise das Eigentumsrecht an Grundstücken, doch können auch sonstige Berechtigungen an unbeweglichen Sachen, wie Dienstbarkeiten, und auch bewegliche Sachen enteignet werden, soz. B. Getreide bei einer Hungersnot, Pferde bei einer Mobilmachung, Baumaterialien etc. Der in der E. liegende Eingriff in die Privatrechtssphäre findet seine Rechtfertigung in der Rücksicht auf die öffentliche Wohlfahrt, der sich das Interesse des Einzelnen unterordnen muß. Dem Staate kann das Recht nicht versagt werden, im öffentlichen Interesse über das Privateigentum zu verfügen, auch die Ausübung dieses Rechts auf Gemeinden, Erwerbsgenossenschaften, Unternehmer und sonstige Privatpersonen zu übertragen. Auf der andern Seite ist es gerecht, daß der Enteignete (Expropriat) von dem Enteignenden (Exproprianten) vollständig entschädigt werde. Das Verdienst, das moderne Enteignungsrecht entwickelt zu haben, gebührt der französischen Gesetzgebung. Durch Art. 109 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch sind die landesrechtlichen Vorschriften über E. aufrecht erhalten. Die deutsche Enteignungsgesetzgebung hat sich der französischen Rechtsentwickelung vielfach angeschlossen, so das badische Gesetz vom 28. Aug. 1835, bez 13. Juni 1899 und das bayrische Gesetz vom 17. Nov. 1837 an die französische Gesetzgebung der 1830er Jahre. Preußen besitzt ein einheitliches Recht erst seit dem Gesetz vom 11. Juni 1874. Außerdem sind an neuern Enteignungsgesetzen zu erwähnen das hessische vom 21. Juni 1884 und das württembergische vom 20. Dez. 1888. Hinsichtlich der Feststellung des öffentlichen Interesses an der E. bestehen verschiedene Systeme in der Gesetzgebung. Nach dem einen System (Hansestädte, Schweiz, England, Vereinigte Staaten; deutsche Reichsverfassung, Art. 41, für Eisenbahnanlagen kraft Reichsgesetzes) wird das Enteignungsrecht je für den Einzelfall durch besonderes Gesetz verliehen. Nach dem zweiten System (Frankreich, Preußen, Württemberg, Baden, Elsaß-Lothringen) wird gesetzlich nur der Grundsatz ausgesprochen, daß E. im öffentlichen Interesse statthaft sei, ihre Anwendung im Einzelfall aber einem Verwaltungsakte des Staatsoberhauptes oder Ministeriums überlassen. Über den Umfang des abzutretenden Gegenstandes entscheidet nach den meisten Gesetzgebungen die zuständige Verwaltungsstelle mit Ausschluß des Rechtswegs, in Bayern und Württemberg erfolgt der Enteignungsausspruch im Verwaltungsrechtswege; nach französischem Recht muß die E. durch Richterspruch geschehen. Der Eigentümer kann, wofern nur ein Teil seines Grundstückes in Anspruch genommen wird, verlangen, daß der Unternehmer das Ganze gegen Entschädigung übernehme, wenn das Grundstück durch die Abtretung so zerstückelt werden würde, daß das Restgrundstück nach seiner bisherigen Bestimmung nicht mehr zweckmäßig benutzt werden könnte. Was die Entschädigung für die enteigneten Gegenstände anbetrifft, so erfolgt die Feststellung der Entschädigungssumme meistens zunächst im Verwaltungsweg unter Zuziehung von Sachverständigen, die die betreffende Sache nach ihrem wahren, gemeinen Werte, den sie zur Zeit der Abtretung nach ortsüblicher Würdigung hat, zu schätzen haben, unter gleichzeitiger Berücksichtigung aller Schäden und Nachteile, die den Eigentümer durch die Abtretung dauernd oder vorübergehend treffen, z. B. wegen dadurch verursachter Unterbrechung einer gewerblichen Tätigkeit, wegen Beschädigung oder Verlustes der Früchte, wegen Wertminderung des verbleibenden Restgrundstückes etc. Gegen die Entscheidung der Verwaltungsbehörden ist regelmäßig die Betretung des Rechtsweges gestattet, und zwar nach § 30 des preußischen Gesetzes binnen sechs Monaten nach Zustellung des Regierungsbeschlusses. Vgl. v. Rohland, Zur Theorie und Praxis des deutschen Enteignungsrechts (Leipz. 1875); Gabr. de Weiß, De l'expropriation pour cause d'utilité publique (Lausanne 1897); Grünhut, Das Enteignungsrecht (Wien 1873); Layer, Prinzipien des Enteignungsrechts (Leipz. 1902); Kommentar zum preußischen Gesetz von Eger (2. Aufl., Bresl. 1902, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 831.
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