Reichsgesetze

[736] Reichsgesetze (hierzu Textbeilage: »Übersicht der Reichsgesetze«), die von der gesetzgeben den Gewalt des Deutschen Reiches für dasselbe erlassenen gesetzlichen Normen. Zur Gültigkeit eines Reichsgesetzes war zur Zeit des frühern Deutschen Reiches die Zustimmung des Reichstags und die Sanktion des Kaisers erforderlich. Das Recht, R. vorzuschlagen, stand dem Kaiser zu und war auch dem Kollegium der Kurfürsten eingeräumt. Die kaiserlichen Gesetzvorlagen gingen zunächst an das Kurfürstenkollegium zur Beschlußfassung, das sie mit seinem Beschluß, der sogen. Relation, an das Kollegium der reichsständischen Fürsten und Herren zur sogen. Korrelation mitteilte. War zwischen diesen beiden Kollegien Übereinstimmung erzielt, so war regelmäßig noch die Zustimmung des Kollegiums der Reichsstädte erforderlich. Ein übereinstimmender Beschluß dieser drei Faktoren (commune trium) wurde Reichsgutachten (consultum s. suffragium imperii) genannt. Zum Gesetz wurde es erst durch die Sanktion des Kaisers, die in Form einer Resolution erteilt ward. Es lag alsdann ein Reichsschluß (conclusum imperii) vor, der nunmehr als Reichsgesetz durch den Kaiser verkündet werden konnte. Lange Zeit hindurch, bis zum »jüngsten« (letzten) Reichsabschied von 1654, war es üblich, sämtliche Reichsschlüsse, die in einer Reichstagssession zustande kamen, am Schluß der letztern in einem Reichsabschied (Reichsrezeß, recessus imperii) zusammenzufassen. Von besonderer Wichtigkeit waren die Reichsgrundgesetze, d. h. die eigentlichen Verfassungsgesetze des Reiches, zu denen namentlich die Goldene Bulle (s. d.) von 1356, der Ewige Landfriede von 1495, die Gerichtsordnungen der obersten Reichsgerichte, nämlich die Reichskammergerichtsordnung von 1555 und die (revidierte) Reichshofratsordnung von 1654, ferner die Reichspolizeiordnungen des 16. Jahrh., namentlich die von 1577, der Westfälische Friede (s. d.), der Friede zu Lüneville von 1801 und der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Febr. 1803 gehörten. – Die jetzige deutsche Reichsverfassung bestimmt. ebenso wie zuvor die norddeutsche Bundesverfassung (Art. 2), daß das Reich das Recht der Gesetzgebung innerhalb der verfassungsmäßigen Zuständigkeit mit der Wirkung ausübt, daß die R. den Landesgesetzen vorgehen. Während zur Zeit des frühern Deutschen Bundes die Beschlüsse des Bundestags für die Angehörigen der Bundesstaaten nur dann rechtsverbindliche Kraft hatten, wenn sie von Staats wegen verkündet waren, erhalten die dermaligen R. diese Kraft durch ihre Verkündigung von Reiches wegen, die durch das Reichsgesetzblatt erfolgt. Ist in einem Gesetz kein besonderer Anfangstermin seiner Gültigkeit vorgesehen, so beginnt dieselbe mit dem 14. Tag nach Ablauf desjenigen Tages, an dem das fragliche Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden ist. Die Faktoren der Reichsgesetzgebung sind Bundesrat und Reichstag, welch letzterm dos Initiativrecht eingeräumt ist. Die vom Bundesrat ausgehenden Gesetzvorschläge werden zwar im Auftrag[736] des Kaisers an den Reichstag gebracht, allein das Recht, dem Reichstag Vorlagen zu machen, steht dem Kaiser nicht zu, sondern nur den verbündeten Regierungen in ihrer Gesamtheit. Das Zustandekommen eines Reichsgesetzes ist durch übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats und des Reichstags bedingt; die Sanktion geschieht durch den Bundesrat, nicht durch den Kaiser; letzterm steht nur die Ausfertigung und Verkündigung der R. zu. Die Gegenstände, die in die Gesetzgebungszuständigkeit des Reiches fallen, sind im Art. 4 der Verfassung aufgezählt (s. Deutschland, S. 788–789), über die Tätigkeit der Reichsgesetzgebung s. Deutsches Recht und die Textbeilage: »Übersicht der Reichsgesetze«. Über die frühern R. vgl. außer den Lehrbüchern des deutschen Privatrechts und der deutschen Rechtsgeschichte besonders Emminghaus, Corpus juris germanici (2. Aufl., Jena 1844 bis 1856, 2 Bde.); über die Gesetzgebung des neuen Deutschen Reiches die Lehrbücher des deutschen Staatsrechts und des Reichsstaatsrechts sowie Bruhns, Gesetzestafel des deutschen Reichsrechts (Berl. 1903); Grotefend, Gesetzsammlung 1806–1904 (4. Aufl., Düsseld. 1902–05, 5 Bde.), und Stöpel, Preußisch-deutscher Gesetz-Codex (3. Aufl., Berl. 1880–82, 6 Bde. und 10 Supplemente bis 1902); Sammlungen der deutschen R. in Einzeldrucken: von Gareis (Gießen 1886 ff.), Guttentag (Berl. 1891 ff. mit Anmerkungen etc.). -In Österreich heißen R. die mit dem Reichsrat vereinbarten Gesetze. Zu ihrem Zustandekommen ist die Übereinstimmung beider Reichsratshäuser und die Sanktion des Kaisers erforderlich. Die Verkündigung erfolgt durch das Reichsgesetzblatt, das in allen Sprachen der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder ausgegeben wird, wobei aber die deutsche Ausgabe als der authentische Text gilt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 736-737.
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