Gesamtschulen

[670] Gesamtschulen für beide Geschlechter sind in Deutschland die meisten ländlichen Volksschulen und selbst in manchen städtischen Volksschulen die untern Klassen. In Preußen (allgemeine Bestimmungen vom 15. Okt. 1872) gilt die Trennung der Geschlechter in den Oberklassen mehrstufiger Volksschulen als erwünscht; doch wird eine dreistufige Gesamtschule der zweistufigen mit getrennten Knaben- und Mädchenklassen vorgezogen. Auch außerhalb Deutschlands sind G. auf der Stufe der Volksschule weit verbreitet; doch besteht im ganzen bei den romanischen Völkern (wohl unter dem Einfluß der katholischen Nonnenorden) Vorliebe für Trennung der Geschlechter. Im höhern Unterrichtswesen galt bis in die neueste Zeit Trennung der Geschlechter bei allen europäischen Nationen als selten durchbrochene Regel. Anders hat sich diese Angelegenheit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika entwickelt. Dort ist Coeducation (of the two sexes; gemeinsame Beschulung von Knaben und Mädchen) für Volks-, Mittel- und höhere [670] Schulen (Primary Schools, Grammar- and High Schools) fast durchweg vorwaltend und wird nicht nur als praktischer Notbehelf geduldet, sondern fast ohne Widerspruch grundsätzlich (als natürlich, gerecht, sparsam, pädagogisch zweckmäßig und wohltätig) empfohlen. Auch diesseit des Ozeans hat die Vorliebe der Amerikaner für ihre Koëdukation einzeln Propaganda gemacht. So begründete P. E. Palmgren 1876 in Stockholm die »Palmgrenska Samskola«, eine höhere Schule für beide Geschlechter, deren Ergebnisse in Schweden durchaus anerkannt werden, und 1880 in Helsingfors Pastor K. T. Broberg das »Nya Svenska Läroverk«, das in Finnland mehrfache Nachfolge fand. Auch nach Dänemark und Norwegen, und zwar teilweise bis ins öffentliche Schulwesen, hat sich von den Nachbarländern aus die Vereinigung beider Geschlechter in denselben Anstalten verbreitet. In Deutschland hat das Prinzip der Koëdukation nur wenige warme Vertreter und keine eigentliche Verbreitung gefunden. Doch ist man in einigen deutschen Staaten (Baden, Sachsen, Hessen) seit etwa 1900 den Wünschen einzelner Schülerinnen durch gunstweisen Zulaß zum Unterricht höherer Knabenschulen entgegengekommen, wie denn Ähnliches bereits länger in der Schweiz, in Italien und einzelnen britischen Lehranstalten besteht. Vgl. Palmgren, Gemeinsame Erziehung, in Reins »Enzyklopädischem Handbuch der Pädagogik«, Bd. 2 (2. Aufl., Langens. 1904); Waetzoldt, Koëdukation, in Wychgrams »Deutscher Zeitschrift für ausländisches Unterrichtswesen«, Bd. 1 (Leipz. 1896); Rein, Pädagogik in systematischer Darstellung, Bd. 1, S. 451ff. (Langens. 1902); »Monographies on Education in the United States of America« (Washingt. 1900), darunter besonders Teil 3: W. T. Harris, Elementary Education.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 670-671.
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