Kriminalistik

[685] Kriminalistik, auch Kriminaltaktik genannt, die Lehre von der Art, in der Verbrechen aller Art verübt werden, sowie von den Mitteln zur Entdeckung und Feststellung begangener Verbrechen. In der kurzen Zeit ihres wissenschaftlichen Bestehens hat sich die K. zu einer gesonderten und für sich abgegrenzten Disziplin emporgearbeitet. Ihre Bestandteile haben von jeher existiert: wer sich um irgend eine Gaunerpraktik gekümmert hat, wer ein Gaunerwort zu verstehen, einen aus dem Kerker geschmuggelten chiffrierten Zettel zu entziffern suchte, wer eine verdächtige Fußspur abgeformt, Blutspuren abgezeichnet, einen Tatort skizziert hat: jeder von ihnen hat in gewisser Art sich mit K. befaßt. Zu einer wissenschaftlichen [685] Disziplin wurde sie erst, als man alles über solche Fragen Bekannte zusammengestellt und durch Versuche, Vergleiche und Beobachtungen zu erweitern getrachtet hat. Dies geschah vor allem durch den Prager Professor Hans Groß (s. d. 3), der in seiner frühern Tätigkeit als praktischer Jurist die beste Gelegenheit hatte, das notwendige Material zu sammeln, die sichersten Beobachtungen zu machen. Als Frucht seiner Arbeiten und Studien gab er das »Handbuch für Untersuchungsrichter« (s. unten) heraus, in dem die K. als Lehre von den Realien des Strafrechts bezeichnet und für sie selbständige und zusammenfassende Forschung in Anspruch genommen wird; gleichwohl will die K. nur als Hilfswissenschaft des Strafrechts auftreten, als die sie die Lehren des letztern in der Praxis verwertbar machen will. Sie dient allerdings auch der Polizei, Gendarmerie etc., in erster Linie aber jedem Strafrichter und Staatsanwalt, der durch sie über alle im Strafprozeß vorkommenden Tatsachen unterrichtet werden soll. Als Unterstützung der K. sollen die Kriminalmuseen in der Gestalt von Unterrichtsobjekten dienen, wie das erste von Groß 1895 in Graz errichtet wurde; weitere bestehen in Berlin, Hamburg, München. Diese Sammlungen enthalten einerseits für die Anschauung wichtige Objekte aus abgeschlossenen Kriminalprozessen, anderseits aber eigens für diesen Zweck angefertigte Objekte, zusammengestellte Reihen und Formen, die vorkommendenfalls als Vergleichsgegenstände dienen sollen. Die Herstellung solcher Museen kostet zwar sehr viel Mühe, aber fast gar kein Geld, ihr Wert für den Unterricht junger Strafrichter und für Vergleiche in vorkommenden Fällen ist sehr bedeutend. Die Hauptsache für die Entwickelung der K. liegt aber darin, daß ihre einzelnen Kapitel einer eingehenden und wissenschaftlichen Bearbeitung durch Fachmänner unterzogen werden. Vgl. Stieber, Praktisches Lehrbuch der Kriminalpolizei (Berl. 1860); Groß, Handbuch für Untersuchungsrichter (4. Aufl., Münch. 1904) und Enzyklopädie der K (Leipz. 1901); Weingart, Kriminaltaktik, ein Handbuch für das Untersuchen von Verbrechen (das. 1904) und Handbuch für das Untersuchen von Brandstiftungen (das. 1895); A. Löwenstimm, Aberglaube und Strafrecht (a. d. Russ., Berl. 1897); X. Jans, Gaunertypen (Luzern 1897); Fr. Paul, Handbuch der kriminalistischen Photographie (Berl. 1900); Peribarraud, Les malfaiteurs de profession (Par. 1893); »Archiv für Kriminalanthropologie und K.«, herausgegeben von Groß (Leipz. 1898 ff.). Auch die neue große russische Zeitschrift »IIPABO« (»Das Recht«) enthält eine besondere Abteilung für K.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 685-686.
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