Kriminalanthropologie

[684] Kriminalanthropologie (Kriminalbiologie), die Lehre von der körperlichen und geistigen Eigenart der Verbrecher. Als solche reicht sie weit zurück bis in die Zeiten der griechischen Philosophie. Der Volksanschauung war zu allen Zeiten die Überzeugung geläufig, daß die Hoheit wie die Niedrigkeit der Seele sich in der äußern Erscheinung des Menschen widerspiegele. Die Fortschritte und Wandlungen der psychiatrischen Forschung haben in unserm Jahrhundert zahlreiche verbrecherische Erscheinungen auf geistige Störungen zurückgeführt, und mehr noch als die Ausstellung des vielumstrittenen Begriffs des moralischen Irreseins hat die Erkenntnis der weiten Verbreitung einer Entartung infolge Vererbung (hereditäre Degeneration) die rein naturwissenschaftliche Auffassung des Verbrechens angebahnt. Weitere Anregung brachte die Entwickelung der Anthropologie (s. d.) durch Virchow, Broca, Morel, Pritchard u. a., besonders aber ihres Hauptzweiges, der Schädellehre. Untersuchungen über Mörderschädel und Verbrechergehirne (Schwekendieck, M. Benedikt) ergaben mancherlei Abweichungen vom Typus (Atypien).

Auf diesen Grundlagen entwickelte sich die »italienische kriminalanthropologische Schule«, deren Begründer und naturwissenschaftliches Haupt der Turiner Nervenarzt C. Lombroso ist, während die beiden italienischen Juristen Enrico Ferri und R. Garofalo die soziologische und juristische Einkleidung und Verwertung der Lehre unternommen und durch geführt haben. Es ist das Verdienst dieser Richtung, die rasch, insbes. in den romanischen Ländern, zahlreiche und begeisterte Anhänger und Mitarbeiter fand, daß sie ihre nicht immer zuverlässigen Untersuchungen an dem Verbrecher nicht auf Schädel und Gehirn beschränkte, sondern auf den ganzen Menschen ausdehnte, daß sie ferner, zum Teil gerade durch ihr ungestümes und über das Ziel hinausschießendes Auftreten, die Aufmerksamkeit weitester Kreise auf die von ihr behandelten Probleme lenkte. Aber was Lombroso von seinen Vorgängern grundsätzlich unterscheidet, ist einmal die Ausstellung eines besondern Verbrechertypus und anderseits dessen naturwissenschaftliche Erklärung. Nach ihm gibt es geborne Verbrecher, die neben typischen seelischen typische körperliche Merkmale besitzen, und zwar haben sie diese Organisation, weil ihre Entwickelung durch einen atavistischen Rückschlag verändert worden ist. Eine Analogie zu diesem Atavismus (s. d.) findet man im Tierreich, wo z. B. die Bissigkeit gewisser Hunderassen als atavistische Eigenschaft aus ihrer Verwandtschaft mit dem Wolfe hergeleitet wird. Daß die dem Verbrechen zugrunde liegenden moralischen Defekte dem Menschen häufig angeboren sind, wird dadurch bewiesen, daß die Keime der Verbrechernatur oft schon bei Kindern sich bemerkbar machen. Messungen Lombrosos haben auch ergeben, daß bei Verbrechern das Durchschnittsmaß des Schädelraumes häufig erheblich geringer ist als dasjenige des Normalmenschen und Geisteskranken derselben Nationalität und Rasse. Seine Beobachtung, daß beim Verbrecher Anomalien der Schädelbildung und Gehirnentwickelung besonders häufig vorkommen, wird durch die von Benedikt und Flesch angestellten Untersuchungen bestätigt, und v. Bischoff hat festgestellt, daß das Hirngewicht des Verbrechers hinter demjenigen des Normalmenschen erheblich zurückbleibt. Gewisse Eigentümlichkeiten des[684] Verbrechers, wie z. B. die im Vergleich zu derjenigen des Normalmenschen vermehrte Spannweite der Arme, sind nach Lombroso geradezu als pithekoide (affenähnliche) Merkmale aufzufassen. Der Gesichtsbildung des Verbrechers verleiht der vorspringende Unterkiefer und die zurückweichende Stirn häufig einen Ausdruck tierischer Roheit. Charakteristisch für den Verbrechertypus sind nach Lombroso auch die Henkelohren, das Schielen und die zum spärlichen Bartwuchs im Kontrast stehende Dichtigkeit und Stärke des Haupthaars. Die Empfänglichkeit für magnetische und Witterungseinflüsse soll beim Verbrecher im Vergleich zum Normalmenschen erhöht, die Empfindlichkeit gegen Schmerzen dagegen gewöhnlich herabgesetzt sein. Als charakteristische Eigentümlichkeiten des Verbrechertypus erwähnt Lombroso ferner noch die Vorliebe für Tätowierungen, die er mit den meisten Naturvölkern teilt, sowie das Vorwiegen der rechten über die linke Hirnhälfte, womit auch das relativ häufige Vorkommen der Linkshändigkeit bei Verbrechern zusammenhängen soll. Lombroso betont, daß innerhalb der Verbrecherwelt die Rassenunterschiede und ethnologischen Merkmale fast vollständig verschwinden, und daß zwischen der geistigen Verfassung des Verbrechers und jenem Zustande, den die Irrenärzte als moralisches Irresein (moral insanity) bezeichnen, sowie mit der Epilepsie und ihren Abarten enge Beziehungen bestehen. Wenn auch dem Geisteskranken nahestehend, gilt ihm der Verbrecher doch nicht für irrsinnig, sondern als ein besonderer anthropologischer Typus.

Die Kritik hat dieser Lehre gegenüber leichtes Spiel. Es kann gar nicht darauf ankommen, die einzelnen tatsächlichen Behauptungen wissenschaftlich zu widerlegen, wie dies insbes. von Bär geschehen ist. Auch die kühne, sehr wenig sympathische atavistische Hypothese hat keine grundsätzliche Bedeutung. Die Lehre Lombrosos und seiner Schule steht und fällt vielmehr mit dem Verbrechertypus. Die Annahme aber einer besondern Spielart innerhalb des genus homo, eines homo delinquens, ist unvereinbar mit der Erkenntnis, daß der Begriff des Verbrechens nach unsrer Gesetzgebung die verschiedenartigsten Fälle umfaßt, daß selbst der Mord ungezählte Abstufungen im Motiv, von der berechtigten Entrüstung bis zur gemeinsten Habsucht, zuläßt, daß also »der Verbrecher« unmöglich einen einheitlichen anthropologischen Typus darstellen kann. In der Tat ist denn auch der Verbrechertypus heute wissenschaftlich völlig aufgegeben. Das beweisen insbesondere mit steigender Bestimmtheit die kriminalanthropologischen Kongresse (Rom 1885, Paris 1889, Brüssel 1892, Genf 1896). Festgestellt bleibt jedoch nach wie vor durch Lombroso, daß bei den Verbrechern sich zahlreiche sogen. Degenerationszeichen finden, die auf eine vererbte Entartung des Individuums und damit auf eine verminderte Widerstandskraft schließen lassen. Damit aber tritt die Bedeutung der sozialen Verhältnisse für die Entwickelung der Kriminalität (s. d.) in den Vordergrund, und darauf die Wissenschaft hingelenkt zu haben wird das Verdienst Lombrosos bleiben.

Vgl. besonders die Werke von Lombroso und Enrico Ferri (s. diese Artikel); Garofalo, Criminologia (2. Aufl., Turin 1891; franz., Par. 1890); Kurella, Naturgeschichte des Verbrechers. Grundzüge der kriminellen Anthropologie und Kriminalpsychologie (Stuttg. 1893) und Die Grenzen der Zurechnungsfähigkeit und die K. (Halle 1903). Hauptorgan der Schule Lombrosos ist das seit 1880 erscheinende »Archivio de psichiatria, antropologia criminale e scienze penali«. Auf der gegnerischen Seite sind zu nennen: Benedikt, Biologie und Kriminalistik (»Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft«, Bd. 7, 1887); v. Hölder, Über die körperlichen und geistigen Eigentümlichkeiten der Verbrecher (»Archiv für Anthropologie«, Bd. 18, 1889); Flesch, Über Verbrechergehirne (Würzb. 1885); Binswanger, Geistesstörung und Verbrechen (61. Naturforscherversammlung zu Köln, 1888); insbesondere aber: v. Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben (»Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft«, Bd. 9, Berl. 1889); A. Bär, Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung (Leipz. 1893); Näcke, Verbrechen und Wahnsinn beim Weibe (Wien 1894) und Die neuern Erscheinungen auf kriminalanthropologischem Gebiet und ihre Bedeutung (»Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft«, Bd. 14, Berl. 1894); Koch, Die Frage nach dem gebornen Verbrecher (Ravensb. 1894). Ferner: Colajanni, La sociologia criminale (Catania 1889, 2 Bde.); Prins, Criminalité et répression (Brüssel 1886); Tarde, La criminalité comparée (Par. 1886); Garraud, Le problème moderne de la penalité (das. 1889); Rosenfeld, Die;dritte Schule' (»Mitteilungen der internationalen kriminalistischen Vereinigung«, Berl. 1893); Sernoff, Die Lehre Lombrosos und ihre anatomischen Grundlagen im Lichte moderner Forschung (deutsch von Weinberg, Leipz. 1896); Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung. K. für Mediziner, Juristen und Soziologen (Heidelb. 1902); »Archiv für K. und Kriminalistik« (hrsg. von H. Groß, Leipz., seit 1898).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 684-685.
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