Linkshändigkeit

[578] Linkshändigkeit, eine etwa bei 2–4 Proz. der gebildeten Menschen vorkommende Bevorzugung der linken Hand vor der sonst vorwiegend gebrauchten rechten. Unter den Linkshändern gibt es sehr berühmte Künstler, wie Leonardo da Vinci und Adolf Menzel. Verbrecher sind nach Lombroso in höherm Grade linkshändig (Männer zu 14 Proz., Weiber zu 22,7 Proz.) als ehrbare Menschen. Auch unter den Naturvölkern ist L. verbreiteter als unter den Kulturvölkern. Desgleichen war dieses der Fall unter den vorgeschichtlichen Rassen, wie Mortillet an neolithischen Schabern (von 354 Schabern waren 105 für die rechte, 195 für die linke Hand eingerichtet, 54 konnten mit beiden Händen gebraucht werden) nachgewiesen und Brinton für die Steinbeile der nordamerikanischen Indianer, wenn auch nicht in so hohem Prozentsatze, bestätigt hat. Um die L. zu verstehen, muß man zunächst die Ursache der Rechtshändigkeit kennen lernen. Für das Zustandekommen derselben sind mancherlei Ansichten geäußert worden. Man nimmt an, daß sie durch stärkere Ernährung der linken Hirnhälfte und, damit zusammenhängend, durch gekreuzte Innervation zustande kommt. Die stärkere Versorgung der linken Hirnhälfte mit Blut hängt wiederum mit dem aufrechten Gange des Menschen zusammen. Bei den Vierfüßern ist die Asymmetrie der innern Organe geringer ausgeprägt als beim Menschen, bei dem die aufrechte Haltung eine andre Lagerung des Herzens und des Aortenbogens bedingt. Das Herz und die von ihm ausgehenden großen Hauptschlagadern kommen auf die linke Seite zu liegen. Die linke Halsschlagader zweigt nun in der Richtung des Blutstroms ab, die rechte dagegen in einem Winkel; erstere nimmt daher mehr Blut auf. Volk konnte an Leichen nachweisen, daß die linke Halsschlagader dreimal soviel Flüssigkeit aufzunehmen vermag, wie die rechte. Die linke Gehirnhälfte wird daher in höherm Maße mit Blut versorgt, d.h. in höherm Grade ernährt, als die rechte. Da nun jene den Funktionen der entgegengesetzten Körperhälfte vorsteht, so wird sich diese, d.h. die rechte, stärker entwickeln als die linke. Und in der Tat ist vielfach festgestellt worden, daß die rechte Körperhälfte nicht nur bezüglich ihres Umfangs und Gesamtgewichts, der Länge der Skelettknochen, des Volumens und des Gewichts der Muskeln (Mategka, Bischoff, Guldberg, Rollet u.a.), sondern auch hinsichtlich des Gewichts der paarig angelegten innern Organe (Gehirn, Lunge, Milz etc.), und besonders auch hinsichtlich der Nerven der Sinnesorgane (Muskelsinn, Tastsinn, Hörvermögen, Sehschärfe), die linke übertrifft, und zwar in dem Verhältnis von 10: 9 (van Biervliet). Daß in der linken Kopfhälfte ein höherer Blutdruck existiert, läßt sich auch aus einer Reihe weiterer Tatsachen herleiten, wie aus bem leichtern Erröten der linken Gesichtshälfte, dem stärkern Wachstum des Bartes, der stärkern Sekretion der Ohrspeicheldrüse, der Pulsation der tiefern Ohrarterie des Trommelfells linkerseits u.a. (Lüddeckens.) Bei den Linkshändigen nun hat man die entgegengesetzten Verhältnisse konstatiert; auch bei ihnen stellt sich das Verhältnis auf 9: 10, indessen zugunsten der linken Körperhälfte. Die L. hängt also offenbar mit der starkern Versorgung der rechten Gehirnhälfte mit Blut zusammen. Theoretisch müßten dieser Erscheinung abnorme Verhältnisse der Halsschlagadern zugrunde liegen; leider fehlen aber hierüber die beweisenden Beobachtungen. Abgesehen hiervon, scheint die stärkere Blutzufuhr der einen Gehirnhälfte für das Zustandekommen der Rechts- oder Linkshändigkeit nicht die alleinige Ursache zu sein. Sicher hat die Erziehung Einfluß auf die Bevorzugung der rechten Hand in der Jugend. In der ersten Kindheit beobachtet man an dem Kinde keine Bevorzugung einer der beiden Hände, wenn es nach Gegenständen greift; das Kind ist ambidexter. Dieses beweisen auch die anatomischen Verhältnisse; Volk vermochte nämlich nachzuweisen, daß der von ihm gefundene Unterschied in der Kapazität der beiden Halsschlagadern zugunsten der linken erst nach der Geburt sich allmählich zu entwickeln beginnt. Vielleicht trägt die Ausbildung des Sprachzentrums, das in der linken Hirnhälfte seinen Sitz hat, dazu bei, daß dieser mehr und mehr Blut zugeleitet wird, wodurch die ganze linke Hirnhälfte überhaupt besser ernährt wird. Die frühzeitige Angewöhnung der Kinder, die rechte Hand zu benutzen, trägt weiter zur Ausbildung der Rechtshändigkeit bei. In Philadelphia hat Tadd seit 1884 zweihändiges Zeichnen, Modellieren und Holzschnitzen mit bestem Erfolg als Unterrichtszweig eingeführt. Vgl. Liersch, Die linke Hand (Berl. 1893); Alsberg, Rechtshändigkeit und L. (Hamb. 1894); Brinton, Left-handedness in North American aboriginal art (in »American Anthropologist«, 1896); Rothschild, Zur Frage der Ursachen der L. (im »Jahrbuch für Psychologie«, 1897); Tadd, Liberty. New methods of education (New York 1898; deutsch: Neue Wege zur künstlerischen Erziehung der Jugend, Leipz. 1900); Lüddeckens, Rechts- und L. (Leipz. 1900); Volk, De Oorzakenen Beteckenes der Rechtshandigkeid (in »Geneesk. Bladen«, Haarlem 1901); van Biervliet, L'homme droit et l'homme gauche (Gent 1901); Rollet, L'homme droit et l'homme gauche (in »Arch. d'anthropol. crimin.«, 1902); Weber, Ursachen und Folgen der Rechtshändigkeit (Halle 1905); Jackson, Ambidexterity (Lond. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 578.
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