Untersuchungsmaxime

[944] Untersuchungsmaxime, im Gegensatz zur Verhandlungsmaxime (s. d.) der prozessuale Grundsatz, daß der Richter, ohne an die Anträge und Angaben der Parteien gebunden zu sein, selbsttätig die Wahrheit in der ihm vorliegenden Rechtssache zu erforschen hat. Wie die Verhandlungsmaxime, als das Kehrbild der Dispositionsmaxime (s. d.), den Zivilprozeß beherrscht, so die U., als das Korrelat der Offizialmaxime (s. d.), den Strafprozeß. Zwar schaffen auch im Strafprozeß, sofern er auf der Anklageform beruht (s. Anklageprozeß), zunächst die Parteien dem Richter den Stoff für sein Urteil, die Tatsachen und die Beweise, durch ihre Verhandlung zur Stelle. Aber der Richter ist daran nicht gebunden; es gilt nicht wie im Zivilprozeß der Satz, daß er lediglich das von den Parteien Vorgebrachte und Bewiesene seinem Urteil zugrunde zu legen habe, er ist vielmehr zu freier Forschung und Untersuchung so berechtigt wie verpflichtet. Er darf und soll die Stoffsammlung der Parteien jederzeit ergänzen, aufklären und berichtigen durch Geltendmachung weiterer Tatsachen und Einführung weiterer Beweismittel; er betreibt den Prozeß; er ist überhaupt von Anfang bis zu Ende Herr des Prozesses, dominus litis. Es ist verkehrt, wenn man vielfach auch für den Strafprozeß die Verhandlungsmaxime[944] gefordert hat; nur die U. wird seinem Wesen und Zweck gerecht. Sie ist auch für den deutschen Strafprozeß gesetzlich anerkannt; vgl. § 153, Abs. 2; 200; 220; 243, Abs. 3, der Deutschen Strafprozeßordnung.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 944-945.
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