Zwergvölker

[1041] Zwergvölker (Pygmäen), kleinwüchsige Stämme in Asien, Amerika und Europa, besonders aber in Afrika. Über ihre Herkunft und ethnographische Stellung ist man noch völlig im unklaren. Fritsch, Schweinfurth, Hartmann sehen in den afrikanischen Zwergvölkern (Negrillos) eine von der sie umgebenden Bevölkerung verschiedene und von ihr verdrängte und zersplitterte Urrasse, Virchow betrachtete sie als pathologisch entartete Reste (»Rückschrittsformen«) früher besser veranlagter Völker; dieser Ansicht neigt auch Ratzel zu, der die afrikanischen Z. als Varietät der Negerrasse bezeichnet. Andre bringen sie mit den einst über ganz Südafrika verbreiteten, allmählich von Europäern binnenwärts gedrängten Hottentotten und Buschmännern zusammen. Virchow zählt zu diesen von Ranke als ethnische »Kümmerformen« bezeichneten Zwergvölkern auch die Lappen (mittlere Körpergröße 1,5 m), die indischen Zwergrassen »schwarzer Haut«, die Dschangal, Dschuanga und Putua im Nordosten, die Kurumba in Maissur, die Veda in Südindien, die Wedda in Ceylon.[1041]

Homer berichtete über Pygmäen am Okeanos, Herodot von solchen an den Nilquellen. Auch in Indien und um Thule sollten sie vorkommen. Daß in Europa in vorgeschichtlicher Zeit zwerghafte Menschen gewohnt haben, scheinen die Gräberfunde von Schweizersbild zu beweisen. Im 16. Jahrh. wird über zwerghafte Bewohner an der Loangoküste (Mima, Bake-Bake) durch portugiesische Seefahrer berichtet, im 17. Jahrh. über die Dongo in Äquatorialafrika. Aber erst das 19. Jahrh. brachte genauere Nachrichten: 1840 der Missionar Krapf von den Doko (s. d.) südlich von Abessinien, 1854 Kölle von den Kenkob und Belsam (Westafrika), 1864 Du Chaillu über die Obongo, dessen Beobachtungen die Mitglieder der deutschen Loangoexpedition (Pechuel-Loesche, Volkskunde von Loango, Bd. 3, Abt. 2, Stuttg. 1907) und Lenz bestätigten. Eingehende wissenschaftliche Schilderung lieferte zuerst Schweinfurth über die Akka (s. d.), die in Long, Felkin, Emin Pascha, Casati, Stanley und Stuhlmann Bestätigung und Ergänzung fand. Die Akka erscheinen in den verschiedenen Gebieten als Ese (Eve), Tiki-Tiki, Moriu, Asifi. Serpa Pinto fand am obern Kuando die Mucassequere, Stanley, Wolf und Wissmann im Kongogebiet die Batua (Watwa), von denen Stuhlmann zwei Frauen aus der Gegend westlich vom Ruwenzori 1893 nach Europa brachte, François und Grenfell am Kongo selber die Bapoto, Kund die Bojaeli (Bagelli) im Hinterland von Kamerun, Crampel die Bayaga nördlich vom Ogowe, Baumann die Watwa in Urundi, Paulitschke die Jebîr, Achdam, Rami, Tomâl unter den Somalvölkern, Donaldson Smith die Dume am Stephaniesee, Graf Götzen, Kersting und Kandt bei den Virungabergen. Alle diese Stämme sind echte Jägernomaden, nur die von Mense am Stanley-Pool gesehenen Bakoa und die Wanyasaiko des Grafen v. Götzen sind Ackerbauer. Die letztern sind auch von auffallend kleinem Wuchs (durchschnittlich 1,3 und nicht über 1,5 m), aber nicht ausschließlich Jägervölker. Die über den ganzen Körper mit einem weichen, filzigen, grauweißlichen Haarflaum bedeckte Haut ist schokoladenbraun oder gelblich, dabei runzelig, was sie vorzeitig alt aussehend macht, ihr Haar kraus (doch nicht in Büscheln), die Augen klein, die Backenknochen vorstehend, die Lippen rot, der untere Gesichtsteil tritt zurück. Beschneidung und Tätowierung sind selten, die Bekleidung mit Rindenstoffen und Schmuck fehlen gänzlich. Waffen sind Bogen und Pfeile (häufig vergiftet), selten Speere; die Hütten sind halbkugelförmig aus Zweigen und Laub im Walddickicht gebaut. Als Haustiere halten sie nur Hunde, zuweilen Hühner. Ihre Sprache scheint nur ein verändertes Idiom der sie umgebenden Negerstämme zu sein. Alle beobachteten Zwergstämme sondern sich politisch und sozial ab. Geringe Körpergröße, verhältnismäßig helle Hautfarbe, Prognathie, Magerkeit, faltenreiche Haut, unstetes Leben (sie leben in der Nähe von Ackerbauern als »menschliche Parasiten«), Fehlen von Ackerbau, Viehzucht und Industrie sind gemeinsame Merkmale. Zwischen Bantuneger und Nordostafrikaner versprengt, reicht ihr Verbreitungsgebiet etwa vom Kongogebiet bis zum südlichen Abessinien. Vgl. außer den Reisewerken der genannten Forscher besonders Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika (Berl. 1894); De Quatrefages, Les Pygmées (Par. 1887); Panckow, Über Z. in Afrika und Südasien (»Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin«, 1892).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 1041-1042.
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