Gelegenheit

1. Die Gelegenheit grüsset manchen vnd beut jhm die Haar; will er nicht, so weiset sie jhm den hinderen.Henisch, 1456, 53; Petri, II, 129.

Darum lässt Schiller seinen Tell sagen: »Hier vollend' ich's, die Gelegenheit ist günstig.«


2. Die Gelegenheit hat nicht immer die Vernunft zur Gefährtin.


3. Die Gelegenheit muss man meiden, sonst wird eine Kohle aus der Kreiden.Parömiakon, 356.


4. Die Gelegenheit muss man nutzen.Mayer, I, 154.


5. Die Gelegenheit thut's.

Die günstigen Zeitumstände sind die Hauptsache bei jedem Unternehmen, von ihm hängt das Gelingen ab.

Dän.: Leilighed er mester i all handel. (Prov. dan., 381.)


6. Eine Hand voll guter Gelegenheit ist besser als ein Fuder guter Rath.

Dän.: En leilighed overvinder alle raad. (Prov. dan., 381.)

Lat.: Occasio omnium consilia superat. (Seybold, 399.)


7. Gelegenheit bringt manchen um die Reinigkeit.Parömiakon, 355.

Lat.: Occasio causa scelerum.


8. Gelegenheit hat man nicht im Ermel.Lehmann, 258, 23.


9. Gelegenheit hat vorn langes, hinten kurzes Haar.Simrock, 3344.

Lat.: Fronte capillata post est occasio calva. (Henisch, 1456; Eiselein, 222.)


10. Gelegenheit hat vornen haar, hinden ist sie glatzig gar.Henisch, 1456, 61; Petri, II, 332.

Frz.: L'occasion ha tous ses cheveux au front. (Leroux, I, 162.)

Ung.: Alkalmatosságnak kopasz a hátulya.


11. Gelegenheit ist ein Meisterin in allen geschefften.Lehmann, 278, 48.


12. Gelegenheit kommt nicht alle Tage.Gaal, 662; Körte, 1982.


13. Gelegenheit laufft manchem ins Hauss; wol dem, der jhr Herberg gibt.Lehmann, 258, 7.

Dän.: Belejlighed løber mangon i huuset, vel den som herberger hende. (Prov. dan., 64.)


14. Gelegenheit macht Diebe.Pistor., III, 50; Eisenhart, 456; Estor, II, 994; Ramann, II. Pred., I, 390; Parömiakon, 1604, 2390 u. 2391; Simrock, 3340; Braun, I, 711: Körte, 1979 u. 2434; Petri, II, 129; Hertius, 27;[1528] Tunn., 23, 6; Reinsberg III, 69; Eiselein, 117 n. 222; Hillebrand, 211, 304; Fallersleben, 614; Graf, 364, 451; Sailer, 256; Kirchhofer, 144; Mayer, I, 154; für Waldeck: Curtze, 351, 455; niederdeutsch bei Bueren, 477; Hauskalender, I.

Sie weckt und reizt Begierden, die sonst nicht erwacht oder doch in ihren Grenzen geblieben wären. Daher sagt ein talmudisches Sprichwort: Die Lücke lockt die Diebe herbei. Es galt daher im ältern Strafrecht die Ansicht, dass ein Vergehen, das blos bei Gelegenheit begangen werde, nicht so strafbar sei, als ein mit Vorsatz und Ueberlegung ausgeführtes. In solcher Allgemeinheit ist aber der Milderungsgrund des Sprichworts nicht richtig. Auch bedroht die neuere Gesetzgebung den hierher gehörenden Hausdiebstahl gerade mit schärferer Strafe. (Vgl. Hillebrand a.a.O.) – Thut man aber der Gelegenheit nicht unrecht, wenn man sie blos das Böse begünstigen lässt? Sollte sie nicht auch ebenso viel Gutes veranlassen? – Oettinger fragt auch, ob es nicht richtiger wäre zu sagen: Gelegenheit macht Dichter.

Mhd.: State machet manegen diep. (Freidank.) (Zingerle, 48.) – Wan stunt und stat vil dieben macht. (Boner.) – Die stat lêrt den diep steln. (Heidin.) – Wann den dewb macht die stat. (Vintler.) (Zingerle, 49.)

Böhm.: Příležitost dĕlá zlodĕje. (Čelakovský, 144.)

Engl.: Opportunity makes a thief. (Eiselein, 222; Gaal, 663.)

Frz.: Abandon fait larron. – Le trou et l'occasion invitent le larron. (Leroux, II, 250.) – L'occasion fait le larron. (Loysel, 820; Gaal, 663; Lendroy, 706; Leroux, II, 123; Starschedel, 282.)

Holl.: De gelegenheid maakt een' dief. (Harrebomée, I, 223.)

It.: All' arca aperta il giusto vi pecca. (Gaal, 663.) – Il bel rubar fa l'uomo ladro. (Gaal, 663.) – La commodità fà l'huomo ladro. (Pazzaglia, 62 u. 186, 9; Gaal, 663.) – L'occasione fà l'huomo ladro. (Pazzaglia, 247, 1.)

Kroat.: Prilika činí tata. (Čelakovský, 144.)

Lat.: Hora, locus faciunt, quod fures non sua tollunt. (Binder II, 1341; Neander, 284.) – Occasio facit furem. (Egenolff, 91a; Henisch, 1456; Binder II, 2340; Fischer, 161, 6; Gaal, 663; Philippi, II, 60; Seybold, 399; Sutor, 566.) – Occasiones solent aditus aperire peccatis. (Zeiller, 38.) – Opportunitas latronem facit. (Binder II, 2340.)

Slow.: Priložnost lepa grehe dela.

Span.: En casa abierta el justo peca. – Puerta abierta al santo tenta.

Ung.: Az alkalmatosság es a hely tészen tolvajá. (Gaal, 663.)


15. Gelegenheit macht Hurer vnd Dieb.

Dän.: Leilighed giør horer og tyve. (Prov. dan., 381.)

Lat.: Occasione duntaxat opus improbitati. (Fischer, 161, 7.) – Occasiones solent aditus aperire peccatis. (Zeiller, 38.)


16. Gelegenheit macht Liebe, Muth und Diebe. Parömiakon, 354 u. 1714.


17. Gelegenheit macht (bringt oft in) Verlegenheit.

Holl.: Gelegenheid maakt genegenheid. (Harrebomée, I, 223.)

18. Gelegenheit reit auff der Post; wer sie ereylet, der hats.Lehmann, 258, 15.


19. Gelegenheit wird schwer erlangt, aber leicht verloren.

Lat.: Occasio agre offertur, facile amittitur. (Philippi, II, 60; Seybold, 399; Sutor, 566.)


20. Gute Gelegenheit kommt nicht alle Tage.

Die Tage folgen sich, aber sie gleichen sich nicht, sagen die Franzosen. (Reinsberg III, 7.)

Dän.: Man har ei leilighed i ermer. (Prov. dan., 381.)


21. Hüte dich vor der Gelegenheit, so wird dich Gott vor der Sünde bewahren.Winckler, XIII, 12.


22. Ist die Gelegenheit vorbei, so hat man die Schale für das Ei.

Holl.: Het is verloren geval, als de gelegenheid voorbij is. (Harrebomée, I, 223.)


23. Lass die Gelegenheit nicht gehen aus den Händen, du weisst nicht, ob sie wird sich wieder zu dir wenden.

Lat.: Fluvius non semper fert secures. (Philippi, I, 157.)


24. Man muss der Gelegenheit aussm weg gehen.Lehmann, 198, 5.


25. Man muss der Gelegenheit die Hand bieten.

Der Gedanke: man muss die Gelegenheit, sobald sie sich bietet, ergreifen und benutzen, findet sich, weil ein allgemeiner Erfahrunssatz, bei den meisten Völkern sprichwörtlich ausgesprochen. Der Araber der Wüste mahnt: Ergreife die Gelegenheit, verliere in Geschäften keine Zeit; das Kamel, das zuletzt zur Cisterne kommt, läuft Gefahr kein Wasser mehr zu finden. Der Hindu empfiehlt: Wascht euch die Hände im fliessenden Wasser, denn dem Klugen geziemt es, der Zeit nachzugeben, sowie der Schwimmende dem fliessenden Wasser nachgibt. Der Engländer räth, die Gelegenheit bei der Stirnlocke, der Holländer: den Zufall beim Haar, der Franzose den Hasen beim Kragen [1529] zu fassen, und der Czeche empfiehlt: Halte den Hasen, wenn du ihn hast, wenn du ihn loslässest, siehst du ihn nicht mehr. Der Lette: Man muss das Brot nicht an der Thür vorübergehen lassen. (S. Ball 13 und Ferkel 18.)

Frz.: L'occasion est chauve, profitez-en. (Lendroy, 359.)

Lat.: Anima actionum omnium occasio est. – Opus perit, cujus perit occasio.

26. Man muss die Gelegenheit am Stirnhaar (oder Schopf) fassen.Simrock, 3343.

Dän.: Grib leilighed for til, hvor den har haar, og ei bag til, hvor den er skaldet. (Prov. dan., 381.)

Engl.: An opportunity which presents itself must not be lost.

Holl.: Men moet de gelegenheid bij de hand nemen (of: bij het haar grijpen). (Harrebomée, I, 224.)

It.: Occasion persa non s'acquista mai. (Pazzaglia, 247, 2.)

Lat.: Cum pluit molendum. (Binder I, 265; II, 652; Philippi, I, 103; Seybold, 102.) – Occasioni inserviendum. (Binder II, 2341.)


27. Man muss die Gelegenheit benutzen, wenn sie sich bietet, sagte der Dieb, als er eine Thür offen fand.


28. Man muss die Gelegenheit brauchen (in Acht nehmen), wenn man sie hat.Kirchhofer, 345.

Frz.: Il faut puiser tant que la corde est au puits. (Lendroy, 1258.) – Pendant que la corde est au puits il faut tirer de l'eau. (Kritzinger, 173a.)

Holl.: Als de gelegenheid zieh aanbiedt, moet men toetasten. (Harrebomée, I, 223.)

Lat.: Qui deserit occasionem, deseritur ab occasione. (Binder I, 1461; II, 2767; Seybold, 485.)


29. Viel Gelegenheit, aber wenig Verwegenheit.

Kein Muth, sie kühn zu ergreifen.

Holl.: Wel gelegenheid, maar geen genegenheid. (Harrebomée, I, 224.)


30. Wenn die gelegenheit einen grüsset, soll er ihr dancken.Lehmann, 267, 7; Eiselein, 222; Simrock, 3345; Körte, 1980; Braun, I, 714.

Daher riethen schon die alten Römer und rathen nach ihnen die Engländer, die Gelegenheit bei der Stirnlocke zu fassen, weil das Hinterhaupt kahl ist. (Reinsberg III, 6.)

Engl.: Hold opportunity by fore-lock, before she turns her tail.

Frz.: Il faut prendre l'occasion aux cheveux. (Lendroy, 1093; Starschedel, 282.)

Holl.: De geboorte van eene goede occasie wil eene vaardige hand van de vroedvrouw hebben. (Harrebomée, I, 208.)

Lat.: Accipe quam primum, brevis est occasio lucri. (Philippi, I, 5.)


31. Wenn die Gelegenheit warm, nimm sie beim Arm.

Frz.: L'occasion est chauve. (Starschedel, 282.)


32. Wenn man keine Gelegenheit hat, muss man eine machen.Kirchhofer, 345; Körte, 1981; Simrock, 3346; Braun, I, 713.


33. Wenn uns die Gelegenheit anlacht, so muss man sie küssen.Winckler, III, 3.

Die Russen sagen aber: Die Gelegenheit soll man nicht küssen, die mit schmuzigem Munde kommt. (Altmann VI, 429.)


34. Wer die Gelegenheit nicht ergreift, der wird von ihr geschleift.

Dän.: Leiligheds forsømmelse er vis tegn til daarskab. (Prov. dan., 381.)


35. Wer die gelegenheit nicht vorn am Kopf ergreifft, der erwischt sie hernach am ort, wo man die Hand bescheisst.Lehmann, 258, 12; Eiselein, 222.

»Wol de gelegenheit gelückseligen gebruken wyl, de vate se vörne vnd hölt se stille; vorsümet he se vnd se entspringet, vorgefflick herna he darna ringet, bringt sik in't Vngelücke gar dêp henin, bekümpt den Spot thom schaden syn.« (Gryse, 8.)

Dän.: Grib leiligheden for an, ellers vender hun dig bagen til. (Prov. dan., 381.)

Frz.: Qui refuse muse. (Leroux, II, 308.) – Tel refuse, qui après muse. (Kritzinger, 473a.)

Holl.: Daar men lang bezig is met toerusten, gaat de gelegenheid verloren. (Harrebomée, I, 223.)


36. Wer die Gelegenheit versäumt, dem zeigt sie das Gesäss.Lehmann, 258, 14; Eiselein, 222; Simrock, 3342.

Gott gab den Schatz, sagen die Russen, aber du verstandest nicht, ihn zu nehmen. (Reinsberg III, 6.)

Holl.: Die de gelegenheid van voren niet aangrijpt, heeft daaraan van achteren geen vat (Harrebomée, I, 223.)

Lat.: Fronte capillata est posthac occasio calva. (Luther, 400.) – Is spretui rem habet, quem mox poenitet. (Bovill, I, 33.) – Rem tibi quam nosces aptam dimittere noli. (Philippi, II, 154.)


[1530] 37. Wer gelegenheit hat, der soll auff ein andere nicht warten, sonst verlewert er die gelegenheit.Lehmann, 258, 17; Simrock, 3341.

»Eine Stunde recht zu fassen, thut der Narr ein Jahr verpassen. Wart' auf die Gelegenheit, aber nimmer auf die Zeit.« Wer Zeit hat und auf die Zeit wartet, der verliert die Zeit, sagen die Polen. Und: Was du heut entschlüpfen lässt, das erlangst du morgen nicht. Die Czechen: Wer eine geeignete Zeit zu etwas hat, warte auf keine andere. (Reinsberg III, 5.)


38. Wer keine Gelegenheit hat, Fleisch zu essen, muss sich an die Brühe halten.Burckhardt, 662.


39. Wer sich vor der Gelegenheit verwahrt, verwahrt sich vor der Sünde.

It.: Guardati dall' occasione, e ti guarderà Dio da peccati. (Pazzaglia, 152, 5.)


40. Wer traut jeder Gelegenheit, kommt in Ungelegenheit.Parömiakon, 368.


*41. Die Gelegenheit bei den Haaren (beim Schopfe) nehmen.

Sie ergreifen.

Lat.: Capere crines. (Plautus.) (Binder II, 428; Erasmus, 693; Faselius, 40.)


*42. Eine Gelegenheit vom Zaune brechen. Braun, I, 712.

Auf eine sehr gezwungene Art eine Veranlassung zu etwas (namentlich Streit) suchen.

*43. Einem eine Gelegenheit bieten.

Holl.: Iemand eene gelegenheid aan de hand geven. (Harrebomée, I, 224.)


*44. Solche Gelegenheiten kommen nicht alle Tage.Mayer, I, 154.


[Zusätze und Ergänzungen]

1. Gelegenheit gehet hin, aber sie kömpt bald herwider.Coler, 212b.


*2. Er lauert auff eine Gelegenheit wie der Wolff auff einen freyen Sprung.Herberger, II, 416.


Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 1. Leipzig 1867.
Lizenz:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Aristophanes

Die Vögel. (Orinthes)

Die Vögel. (Orinthes)

Zwei weise Athener sind die Streitsucht in ihrer Stadt leid und wollen sich von einem Wiedehopf den Weg in die Emigration zu einem friedlichen Ort weisen lassen, doch keiner der Vorschläge findet ihr Gefallen. So entsteht die Idee eines Vogelstaates zwischen der Menschenwelt und dem Reich der Götter. Uraufgeführt während der Dionysien des Jahres 414 v. Chr. gelten »Die Vögel« aufgrund ihrer Geschlossenheit und der konsequenten Konzentration auf das Motiv der Suche nach einer besseren als dieser Welt als das kompositorisch herausragende Werk des attischen Komikers. »Eulen nach Athen tragen« und »Wolkenkuckucksheim« sind heute noch geläufige Redewendungen aus Aristophanes' Vögeln.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon