Martinsgans

1. Martinsgäns' han theuere Schwänz'.Nass. Schulbl., XIV, 5.

Man hat verschiedene Ansichten über die Entstehung des Gansessens am Martinsabend, das auch in dem bekannten Verse empfohlen wird: »Iss gens Martini, wurst in festo Nicolai (s.d.), iss Blasii lemper, häring oculi mei semper« u.s.w. Sulpicius Severus, ein zu Anfang des 5. Jahrhunderts lebender Schriftsteller, hat ein Buch von dem Leben des heiligen Martin, der Bischof von Tours war und im Jahre 397 starb, und einige Dialoge über die Tugenden und Wunder dieses Heiligen geschrieben. In dem dritten derselben (Ausgabe von Georg Horn, Amsterdam 1663) heisst es: »Das Fest des heiligen Martin ist auf den 11. November angesetzt. An diesem Tage feiern die Christen wahre Bacchanalien und stopfen sich voll Gänsebraten. Der Ursprung dieser Gewohnheit ist ungewiss. Was man insgemein sagt, als geschehe es deswegen, weil Gänse durch ihr Geschrei den heiligen Martin verrathen hätten, oder weil er sich durch den Genuss ihres Fleisches den Tod zugezogen habe, das sind Märchen, wie Vossius schreibt, der die Gewohnheit von dem Landvolke der nördlichen Gegend herleitet, auf dessen Tischen die Gans ein ebenso beliebtes Gericht war, als bei uns Krammetsvogel und Rebhuhn.« Schulz (Preuss. Hausfreund, Berlin 1810, S. 30) erklärt die Entstehung daher, dass Schmausereien von jeher in der geistlichen Welt die Vorläufer von Fasten gewesen seien; man that sich zuvor gütlich, um die Entbehrungen nachher leichter auszuhalten. Das, sagte er, ist der Ursprung des Carnevals bei uns, der Butterwoche bei den Russen, der Ostatki bei den Polen. Seit dem 5. Jahrhundert wurde es üblich, sich durch Fasten vorzubereiten. Um die Mitte desselben verordnete Perpetuus, Bischof von Tours, dass vom Feste Martini an bis Weihnacht dreimal in der Woche gefastet werden sollte. Die Martinsgans trat nun vor dem Anfang der vierzigtägigen, im 13. Jahrhundert wieder aufgehobenen Fasten vor Weihnacht. – Ueber die Entstehung der Martinsgans ist noch zu vergleichen W. Wenzel (Symb., I, 310), der vermuthet, dass eine heidnische Winterfeier, wobei man Gänse opferte, dem christlichen Martinsfeste vorangegangen zu sein scheine. Ferner: Reusch, Das Martinsfest in den Neuen Preuss. Provinzialbl., 1850, IX, 177; Jansen, Over den Oorsprang der Maartenganzen in den Werken der Maatschappij van Nederland, Letterkunde, Leyden 1850, VI, 177. Nach Wolf (I, 38) erinnert die Martinsgans an grosse Opfer, die dem Wodan für den Erntesegen gebracht wurden. Endlich Schiller (III, 12) wie immer mit reichen Quellenangaben und Mittheilungen. R. Drescher (Schles. Provinzialbl., 1866, S. 658) sagt: »Das heidnische Fest, an dessen Stelle jetzt die Sanct-Martinsfeier begangen wird, fiel ursprünglich mit dem [474] grossen Opferfeste des Herbstes zusammen, welches auch der Kirmesfeier zu Grunde liegt. Wenigstens beruhen beide nachweisbar auf derselben Vorstellung, nämlich, dass der genannte Gott in Begleitung anderer Götterfürsten Segen spendend und Opfer fordernd um diese Zeit das Land durchziehe. An Martini findet bei den wohlhabenden schlesischen Bauern das zweite ›Schweinschlachten‹ jeden Winter statt; und die ›Martinsgans‹ gibt überall in Stadt und Land den üblichen Festbraten dieses Tags. Auch Kuchen werden wieder gebacken; aber diesmal nicht die platten, viereckigen oder kreisrunden Streusel- und andern Kuchen, sondern ›Märt'nhernla‹ oder ›Märt'nhernd'l‹, süsser Kuchen in Hufeisenform. Die Hufeisen gehörten zu den Symbolen Wodan's. Die hufeisenförmige Gestalt des Gebäcks steht im engsten Zusammenhange mit dem wirklichen als glückbringend geltenden Hufeisen, die man in Schlesien häufig auf die Thürschwellen genagelt findet, desgleichen auch bei fränkischen Bewohnern des sächsischen Vogtlandes. Die wohlschmeckenden ›Märt'nhernln‹ sind weiter nichts als einstiges Opfergebäck, dessen heidnische Form bis zum heutigen Tage beibehalten wurde.« (Vgl. Simrock, Myth., 563; Rochholz, 378.)


2. Wenn de Märtensgôs up'n Îse steit, Christkindk'n in't Woater (oder: in'n Dreck) geit. (Altmark.) – Danneil, 133; Schmeller, II, 622; für Hannover: Schambach, II, 661.

Wenn es um Martini schon Eis gibt, soll, nach dem Sprichwort, um Weihnachten Kothwetter sein.


*3. Er hat viel Mertens Genss helffen essen.Eyering, I, 340; II, 225 u. 308; Henisch, 1351, 49.

Er hat lange gelebt.


*4. Man läutet die Martinsgans hin.

Bezeichnet den Misbrauch der Glocken im Papstthum. (Adr. Beier in seiner handschriftlichen Sammlung thüringischer Sprichwörter im 17. Jahrhundert.) (Vgl. Richard, 391, 5.)


[Zusätze und Ergänzungen]

5. Ist Sanct Martins Gans am Brustbein braun, wird man mehr Schnee als Kälte schau'n; ist sie aber weiss, so kommt weniger Schnee als Eis.Egerbote, 1875.


*6. Auf die Martinsgans warten.

Holl.: Hij wacht op Sint Maartens gans. (Harrebomée, II, 268b.)


Quelle:
Karl Friedrich Wilhelm Wander (Hrsg.): Deutsches Sprichwörter-Lexikon, Band 3. Leipzig 1873.
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