Anschauen

[88] Anschauen ist soviel wie sehen. Wenn wir daher irgend ein Ding so genau betrachtet haben, daß wir es uns ganz deutlich vorstellen können, so haben wir davon eine Anschauung. Diese ist nicht blos bei den Gegenständen möglich, welche wir mit den Augen erblicken, sondern überhaupt bei allen denen, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, sobald wir nur eine so deutliche Vorstellung davon besitzen, daß wir uns dieselben im Geiste gleichsam gegenwärtig denken können. Erst aber, wenn dieses der Fall ist, dürfen wir behaupten, einen Gegenstand völlig zu kennen. So hat nur der Anschauung von der Gestalt eines Landes, der die ganze Karte des Landes mit allen Grenzen, Bergen, Flüssen, Seen und Städten im Geiste sich vorzustellen vermag. Der Künstler aber muß die Gemälde, Bildsäulen, Musikstücke, noch ehe er sie gefertigt, sich schon im Geiste als sichtbar oder hörbar vorstellen können. Um sich aber von Gegenständen eine richtige Anschauung machen zu können, müssen diese auch anschaulich sein. Soll daher Jemandem eine Begebenheit so vorgestellt werden, daß er eine Anschauung davon bekommt, so müssen ihm die dabei thätigen Personen so redend und handelnd vorgeführt werden, daß er sie gleichsam selbst handeln sieht und reden hört. Auch muß der einzelne Theil ebenso anschaulich dargestellt werden, wie die Hauptsache, da nur dann erst ein ganz deutliches Bild entstehen kann.

Dies ist nun besonders beim Unterrichte von der größten Wichtigkeit; erhält das Kind keine Anschauung der Sache, so bekommt es von vielen Dingen nur verworrene und verkehrte Begriffe oder kann sich bei deren Namen nichts denken. Das ist auch der Grund, daß bloße Beschreibungen bei allen den Dingen, die sich mit den Sinnen wahrnehmen lassen, sehr wenig helfen. Das Kind muß das Ding selbst sehen, wenn es dasselbe kennen lernen soll, und muß die Melodie hören, wenn es dieselbe behalten soll. Eine einzige Ansicht eines Thieres ist belehrender, als zehnmaliges Lesen [88] der Beschreibung desselben. Ebenso sind bildliche Darstellungen viel unterrichtender als die ausführlichsten Beschreibungen. Den hohen Werth der Anschauung beim Unterrichte erkannte vorzüglich Pestalozzi, der die Anschauungslehre zuerst weiter ausbildete und auch beim Rechnen und in der Geometrie mit dem besten Erfolge anwendete. Nachdem man sich vor ihm meist begnügt hatte, wenn das Kind nach und nach dem Lehrer es absah, wie ein Exempel gerechnet oder eine Aufgabe gelöst wurde, so verlangte er, daß der Schüler selbst die Zahl sich zusammensetze oder die geometrische Figur bilde und auf diese Weise zur Anschauung Dessen gelange, was es bei der frühern Unterrichtsweise kaum geahnet hatte. Seine Lehre hat man später auf die übrigen Unterrichtsgegenstände übergetragen, die mit den Sinnen sich wahrnehmen lassen. Übersinnliche Dinge jedoch, wie die Lehre von Gott und den göttlichen Geboten und Alles, was sich nur denken läßt, können nicht zur Anschauung gebracht und müssen blos durch die Vernunft aufgefaßt werden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 88-89.
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