Leibeigenschaft

[719] Leibeigenschaft ist das eigenthümliche Rechtsverhältniß, welches sich in den europ. Staaten mit dem Untergange der Römerherrschaft und im Gefolge der Völkerwanderung ausgebildet hat und nach welchem ein Mensch als theilweises Eigenthum eines Andern betrachtet wird. Die Leibeigenschaft unterscheidet sich in dieser Beziehung von der Sklaverei (s.d.), bei welcher ein Mensch zum völligen Eigenthum eines Andern wird. Der Leibeigne, auch Eigne, Halseigne, Bluteigne, Eigenbehörige, Gutseigne, Eigenarme ist seinem Erb- oder Leibherrn mit seiner Person und seiner Habe zu gewissen Diensten verpflichtet und darf nach seinem eignen Willen sich nur unter gewissen Bedingungen bestimmen und namentlich nur insofern, als aus dieser Willensbestimmung seiner Pflichterfüllung gegen den Herrn kein Eintrag geschieht. In den verschiedenen Ländern haben sich verschiedene Grade der Leibeigenschaft ausgebildet und man unterscheidet derselben im Allgemeinen drei: strenge, mittlere und gelinde. Die Leibeigenschaft beruht theils auf der Person, insofern jeder von einer leibeignen Mutter Geborene der Leibeigenschaft selbst wieder verfällt, theils auf dem Besitzthum, indem Jeder mit einer Besitzung, auf welcher einmal die Leibeigenschaft ruht, diese mit übernimmt. Diesem gemäß kann man auch geschichtlich einen doppelten Ursprung der Leibeigenschaft nachweisen, nämlich den durch Gewalt und den durch Vertrag. Bei den Heereszügen, mit denen die germanischen Völkerstämme Europa überschwemmten, geschah es, daß, wo ein Volksstamm sich endlich niederließ, das gesammte Land der theils vertriebenen, theils unterjochten Nation als Eigenthum des Siegers betrachtet wurde, und da die Sieger nun bei der Eintheilung des Landes zum Theil weitläufige Besitzungen erwarben, so war es ihrem Vortheil gemäß, die Überreste der bisherigen Einwohner unter sich zu dulden, ja ihnen den bisherigen Landbesitz ganz oder zum Theil zu lassen, jedoch nur so, daß sie sowol über dieses Land selbst als über die Personen, welche es bebauten, sich das Eigenthumsrecht vorbehielten. Um an den Unterjochten fleißige und nützliche Unterthanen zu haben, mußten sie ihnen gewisse Rechte, einen Schein von Freiheit nachgeben, um aber zugleich ihr Recht als Herren zu behaupten, mußten sie dieselben zu Abgaben und Diensten anhalten, und ihnen die freie Verfügung über das Besitzthum sowol als über ihre Person verwehren. Je schmachvoller das besiegte Volk erlegen, je weniger zur Milde gestimmt das siegende war, ein desto härteres Leibeigenschaftsverhältniß ergab sich, wogegen ein besseres Loos das besiegte Volk hatte, welches durch seine Haltung eine größere Schonung von Seiten der Sieger nöthig machte, oder wol gar die Ordnung der neuen Verhältnisse einem vertragsmäßigen Uebereinkommen verdankte. In diesem Falle begnügten sich die Sieger wol mit Abtretung eines Theils des Besitzthums, Anerkennung ihrer Oberherrschaft und Verpflichtung zu gewissen festgesetzten Diensten. Bei der strengsten Leibeigenschaft ist der Leibeigne der Willkür seines Herrn fast ganz preisgegeben, indem er nicht nur keinen andern Lebensberuf wählen, kein Vermögen erwerben darf, sondern auch nicht einmal über seinen Nachlaß verfügen kann, weil dieser seinem Herrn anheimfällt; dieser kann auch nach seiner Willkür körperliche Strafen und Züchtigungen über ihn verhängen und büßt einen an ihm begangenen Todtschlag wol nur mit einer geringen Geldstrafe. Leichter ist stets die aus Vertrag hervorgegangene Leibeigenschaft; sie entstand nicht nur auf die schon angedeutete Weise zwischen Sieger und Besiegten, sondern auch unter den Siegern selbst. Der Herr übergab seinen Dienern von dem ihm zugefallenen Landbesitz einen Theil unter gewissen Bedingungen, welche die Beschenkten im Unterthanenverhältnisse erhielten. Wo dann in einem Volke mildere Leibeigenschaft stattfand, wo es den Herren wünschenswerth war, auf ihren weitläufigen Besitzungen nützliche Unterthanen zu gewinnen, dahin flüchteten sich wol auch aus andern bedrängten Gegenden Einwohner und traten durch Vertrag in Leibeigenschaft. In den gesetzlich geordneten Staaten hat auch die Leibeigenschaft mit der Zeit eine gesetzliche Bestimmtheit erlangt und in ihnen wurde dann die Versetzung in die Leibeigenschaft auch ein Strafmittel für bisher freie Menschen, welche sich der Freiheit unwürdig bezeigt hatten. Auch der Heimatlose, welcher sich Jahr und Tag in einer Gegend herumtrieb, verfiel der Leibeigenschaft nach dem sogenannten Wildfangsrechte. Je mehr die dem christlichen Geiste angemessene Idee der Menschenwürde und der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, welches Aussprüche der in einem Volke herrschenden Vernunft, nicht aber Satzungen der Willkür enthalten soll, Anerkennung gewann, desto mehr mußte man einsehen, daß die Leibeigenschaft ein unwürdiges Verhältniß sei. Der Aufhebung derselben traten nur die eingewurzelten Besitzverhältnisse einerseits und andererseits der mangelhafte Bildungszustand der bisherigen Leibeigenen hemmend entgegen. Wurde nämlich den bisherigen Leibeignen ihr bisheriges Besitzthum ohne Weiteres als freies Eigenthum überlassen, so wurde ihren bisherigen Herren damit ein offenbar ungerechter Schade zugefügt, denn es wurde der Werth ihrer Besitzungen herabgedrückt, um welchen sie selbst diese erworben hatten. Wurde dagegen den Leibeignen ihr bisheriger, ihnen nur gegen die Pflichtigkeit zugestandener Besitz genommen, so wurde dagegen diesen ein Unrecht zugefügt, als sie doch schon durch die bisherigen Dienste ein Anrecht an die Besitzungen sich erworben hatten, und was ebenso sehr in Betracht kam, es wurde eine Menge von Menschen erwerblos gemacht, die nicht im Stande war, sogleich andere Erwerbsquellen zu ergreifen. Einen vermittelnden Weg einzuschlagen, namentlich zunächst die Willkür der Leibherren zu beschränken, dann die [719] Freilassung der Leibeignen so zu bewirken, daß ihre bisherigen Herren eine einigermaßen billige Entschädigung erhielten, ist die schwierige Aufgabe der neuern Gesetzgebungen gewesen und dieselbe ist so weit gediehen, daß wenigstens in den deutschen Staaten das strenge Leibeigenschaftsverhältniß überall als aufgehoben oder doch in der Aufhebung begriffen betrachtet werden muß. Früher schon wurde die Leibeigenschaft unter gewissen Bedingungen aufgehoben, so durch Verjährung von 30 Jahren (sie konnte aber auch durch eine gleich lange Verjährung rechtskräftig werden), durch richterliche Entscheidung, wenn sich ein Leibherr grobe Gewaltthätigkeiten gegen seine Leibeigenen hatte zu Schulden kommen lassen. Schon während der Kreuzzüge wurde durch Staat und Kirche jeder Leibeigene für frei erklärt, welcher einen Kreuzzug mitmachte.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 719-720.
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