Medicin

[95] Medicin bezeichnet im allgemeinsten Sinne diejenige Wissenschaft, welche sich mit der physischen Geschichte (Naturgeschichte) des Menschen und alle den Veränderungen beschäftigt, welche derselbe vermöge seiner Organisation, sowie in Folge nothwendiger oder zufälliger Einwirkungen der Außenwelt erleiden kann und die zur Erhaltung seiner Gesundheit und zur Beseitigung seiner Krankheitszustände dienlichen Regeln vorträgt. Häufig wird unter Medicin nur die Kunst zu heilen verstanden, was aber irrige Vorstellungen veranlaßt, indem diese Begriffsbestimmung viel zu beschränkt ist und nur den Zweck einer Wissenschaft ausdrückt, welche rücksichtlich der in ihr Gebiet gehörigen Gegenstände weit umfassender ist. Die Heilkunst macht nur den praktischen Theil der Medicin aus, insofern sie es blos mit der Anwendung der zur Erhaltung der Gesundheit und Beseitigung von Krankheiten geeigneten Vorschriften zu thun hat, und kann bis auf einen gewissen Punkt von der Wissenschaft als der Gesammtheit von Thatsachen, auf welche sie sich stützt unterschieden werden. Die Medicin gehört ohne Widerrede zu den interessantesten Studien, insofern der Mensch selbst der Gegenstand derselben ist, und übt auf das Wohl des Einzelnen wie der ganzen bürgerlichen Gesellschaft den größten Einfluß. Sie umfaßt eine große Menge von Kenntnissen und besteht aus einer ziemlichen Anzahl einzelner Wissenschaften, die sich alle mehr oder weniger gegenseitig begründen und stützen und von denen deshalb keine ganz in Wegfall kommen kann. Als ihre eigentliche Grundlage jedoch muß die allseitige Kenntniß des Menschen im gesunden Zustande, die sogenannte Anthropologie, betrachtet werden. Diese begreift wieder die Anatomie (s.d.) und die Physiologie (s.d.) oder die Lehre von den Verrichtungen des menschlichen Körpers in sich und die sogenannte Gesundheitslehre oder Hygieine macht uns mit den zur Regelmäßigkeit jener Verrichtungen, d.h. mit den zur Gesundheit nöthigen Bedingungen bekannt. Ebenso unentbehrliche Bestandtheile des medicinischen Wissens sind ferner die möglichst vielseitige und vollständige Kenntniß der auf den menschlichen Körper einwirkenden Außenwelt und seiner Krankheiten nach Ursprung, äußern Erscheinungen, Verlauf und Ausgang, sowie der vorhandenen Mittel, Krankheitszustände zur Gesundheit zurückzuführen oder, wenn unheilbar, wenigstens zu mildern. Diese Zweigwissenschaften der Medicin können einander wenigstens behufs der Ausübung der Kunst nicht entbehren, allein ebenso unstatthaft in wissenschaftlicher Beziehung ist die sehr gewöhnliche Trennung der Medicin in eine innere und äußere oder in die eigentliche Arzneikunst und Chirurgie, wenn sie auch in praktischer Hinsicht zulässig sein mag, da allerdings nicht Jeder, der sich dem Studium der Medicin widmet, die zur Ausübung der Chirurgie (s.d.) erfoderlichen Eigenschaften besitzt. Die Wissenschaft vom Menschen im gesunden und kranken Zustande ist eine einzige, so zu sagen untheilbare, denn Alles bedingt und erklärt sich in ihr, sodaß man das Ganze kennen muß, wenn man das Einzelne richtig [95] beurtheilen will. Es dienen die soeben als zunächst nothwendig aufgezählten Kenntnisse aber nicht blos zum Wohle des Einzelnen, sondern auch in allgemeinerer Anwendung zum Nutzen der ganzen Gesellschaft. Das Zusammenleben der Menschen im Staate bedingt nämlich zahlreiche Gesetze und Verordnungen, welche für Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Gesundheitszustandes Sorge tragen. Ferner müssen die verschiedenen Zweige der Medicin den Staatsbehörden über gewisse Erscheinungen an dem kranken oder auch gefunden Menschen Aufschluß gewähren oder auch zur Ermittelung von Verbrechen, die an der Gesundheit und dem Leben des Menschen begangen werden können, beitragen. Alles dahin Gehörige macht daher einen besondern Zweig der Medicin aus, der mit dem Namen der Staatsarzneikunde belegt wird und wieder in die gerichtliche Medicin und medicinische Policeiwissenschaft zerfällt. Die dazu bestellten Behörden heißen davon Medicinalbehörden, die betreffenden Anstalten Medicinalanstalten, die Beamten Medicinalbeamte.

Wegen der vielfachen Beziehungen, in denen der Mensch mit der Außenwelt steht, und weil er als Körper den Gesetzen der Materie (s.d.) unterliegt, setzt das Studium der Medicin das der Naturkörpe: überhaupt und ihrer Gesetze voraus. Es gibt daher noch andere, nicht gut entbehrliche Hülfswissenschaften der Medicin, zu denen namentlich die Mineralogie, Botanik, Zoologie, Chemie, Pharmacie und Physik (s.d.) gehören. Botanik, Zoologie und Mineralogie beschäftigen sich mit Gegenständen, welche der Mensch als Nahrungs- oder Arzneimittel benutzt oder doch kennen lernen muß, weil sie eine schädliche, oft sogar lebensgefährliche Wirkung auf seinen Körper ausüben; Physik und Chemie bieten der Medicin eine Menge von Lehrsätzen zur Benutzung dar, welche geeignet sind, über manche Vorgänge im lebenden Körper, sowie über dessen Grundbestandtheile einigermaßen Auskunft zu geben und die Beschaffenheit und Einwirkungsart der ihn von allen Seiten umgebenden Außenwelt kennen zu lernen, sowie endlich eine Anzahl von arzneilichen und mechanischen Mitteln zur Erhaltung der Gesundheit und Beseitigung von Krankheiten. Die Pharmacie, welcher der Arzt auch nicht fremd sein darf, hat die Bereitung und Aufbewahrung der eigentlichen Arzneimittel zum Gegenstande. Sämmtliche zur Medicin gehörige Wissenschaften werden noch fortwährend vervollkommnet, denn die Medicin ist eine Erfahrungswissenschaft und kann als solche freilich nur im Laufe der Zeit und sehr allmälig weiter ausgebildet werden. Was ihre Entstehung anlangt, so verliert sich dieselbe, wie die der meisten Wissenschaften, in den frühesten Zeiten, als der erste wissenschaftliche Begründer derselben darf indeß Hippokrates (s.d.) betrachtet werden.

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Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 95-96.
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