Wahrheit

[638] Wahrheit (die) besteht in der Übereinstimmung der Vorstellungen mit sich selbst und mit den Gegenständen, worauf [638] sie sich beziehen, oder mit der Wirklichkeit. Die Wahrheit ist demnach eine Eigenschaft der Erkenntniß, und Wahres und Nichtwahres kann nur in Bezug auf den erkennenden Geist aufgefaßt werden. Da die Erkenntniß nach einer doppelten Seite, nach ihrer Form und nach ihrem Inhalte sich darstellt, so geht hieraus der Unterschied der formellen und materiellen Wahrheit hervor. Formelle Wahrheit hat die Erkenntniß einer Sache, wenn die Vorstellungen, die sie in sich begreift, frei von Widerspruch sind und den Gesetzen des Denkens und der Logik vollkommen entsprechen, weshalb sie auch logische Wahrheit genannt und dafür im gewöhnlichen Leben der sinnverwandte Ausdruck Richtigkeit gebraucht wird. Ein Begriff ist in dieser Beziehung wahr oder richtig, wenn seine Merkmale sich nichts Widersprechendes enthalten; ein Urtheil, wenn es den Gesetzen des Denkens gemäß gedacht wird; ein Schluß endlich ist wahr, wenn er mit den Gesetzen zu schließen übereinstimmt. Zum vollständigen Begriffe der Wahrheit gehört aber nicht blos die formelle Richtigkeit der Erkenntniß oder die Übereinstimmung des Gedachten mit den Gesetzen des Denkens, dieselbe muß auch materiell oder ihrem Inhalte nach wahr sein, d.h. die Vorstellungen, welche den Begriffen über das Wesen der Dinge zu Grunde liegen, müssen dasselbe wirklich ausdrücken und dürfen davon nichts Anderes aussagen als Das, was die eigenthümliche Beschaffenheit desselben ausmacht. Denn wo die Wahrheit, welche sich in der Vorstellung bei der Erkenntniß eines Gegenstandes abspiegelt (subjective Wahrheit) mit Dem, was derselbe an sich ist (objective Wahrheit), zusammenfällt, erst da hat die Wahrheit ihr Ziel. Aber die Erfahrung lehrt, daß auch bei dem schärfsten Nachdenken und bei der sorgfältigsten Beobachtung die Erkenntniß mangelhaft bleibt, daher die vollkommene Wahrheit in jedem Gebiete der Wissenschaft als ein dem Verstande unerreichbares Ideal erscheint. Die Frage, ob dem Menschen ein Wissen zustehe, das vollkommene Wahrheit enthält und über die Täuschung der subjectiven Vorstellung sich bis zum Sein und Wesen der Dinge erhebt, hat von jeher die Philosophie beschäftigt und zur Bildung verschiedener Ansichten hierüber Veranlassung gegeben. Der Skepticismus (s.d.) läßt die Möglichkeit eines wahren Wissens dahin gestellt sein, indem es für die materielle Wahrheit keinen zureichenden Erkenntnißgrund gebe und alles Anstoßen als ein Gedachtes, in Begriffen Enthaltenes, der Möglichkeit unterliege, daß die Sache selbst anders beschaffen sei, als der Begriff aussage. Der Kriticismus der Kam'schen Philosophie behauptet nur nach der einen Seite der menschlichen Vorstellung die Wahrheit des Wissens, leugnet dagegen dieselbe in der Beziehung zu den Dingen der Außenwelt, die an sich betrachtet, dem Menschen ganz unbekannt seien. Die neuere Philosophie Schelling's und Hegel's hat die Frage durch den Machtspruch entschieden, daß sie den Unterschied des Denkens und des Seins aufhebt und beides als Eins und Dasselbe betrachtet, sodaß in der Vorstellung und dem Begriffe zugleich auch die Wirklichkeit des Gegenstandes mit aufgenommen und das Wissen von jenem als ein wirkliches Erkennen des letztern angesehen wird. Obgleich nun die Wahrheit in der allgemeinsten Auffassung nur Eine und dieselbe, nämlich Befriedigung des Wahrheitssinnes ist, so erscheint sie doch ebenso mannichfaltig als die verschiedenen Zweige der Erkenntniß und Wissenschaft und in Ansehung derselben spricht man von mathematischen, physischen, historischen, philosophischen, theologischen Wahrheiten u.s.w. Empirische Wahrheiten sind solche, die Erkenntnisse in sich schließen, welche die Grenze der sinnlichen Erfahrung (Empirie) nicht überschreiten; denselben stehen die idealen Wahrheiten entgegen, welche den Stoff der Erkenntniß in den von der Vernunft dargebotenen und entwickelten Ideen hernehmen. Hierher gehört die religiös-sittliche Wahrheit, welche für den Menschen beiweitem die größte Wichtigkeit hat, da er durch dieselbe zu dem Bewußtsein seiner höhern Natur und Bestimmung gelangen und zur Verwirklichung der wichtigsten Zwecke des Lebens angeschrieben werden soll. Wahr hat demnach oft die Bedeutung des Guten und Rechten, und Wahrheit heißt im N. T. so viel als die Lehre des Herrn. Wahrheit vom Charakter gebraucht ist zur Gewohnheit gewordene Neigung, seine Äußerungen stets mit seinem Innern übereinstimmen zu lassen, oder die Übereinstimmung unsers gesammten Betragens mit unsern Gesinnungen, wo dann Falschheit das Gegentheil ist und noch den Nebenbegriff hat, daß man durch ein angenommenes, erkünsteltes Äußere Andern zu ihrem Schaden hintergehen und über die Beschaffenheit seiner Gesinnungen und Handlungen täuschen will. In mehren Bibelstellen, und auch bisweilen im gewöhnlichen Leben, wird Wahrheit für Wahrhaftigkeit gebraucht, und bezeichnet die Liebe zur Wahrheit. Ueberall nach der Erkenntniß der Wahrheit streben und nach der erkannten Wahrheit leben, das ist die große Aufgabe des Menschen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 638-639.
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