Wahrsagen

[639] Wahrsagen, weissagen, prophezeien bedeutet künftige Dinge angeblich vorhersagen, welche Gabe seit den frühesten Zeiten und bei allen Völkern einzelnen Personen, besonders Priestern und Priesterinnen, zugeschrieben worden ist. Sie übten dieselbe unter vorgeblicher Begünstigung ihrer Gottheiten, die ihnen aus gewissen Zeichen die Zukunft erkennen lassen sollten, und die Auslegung dieser Zeichen machte die Wahrsage- oder Zeichendeutekunst aus. Man wahrsagte aus Träumen, aus dem Fluge, Geschrei und Fressen der Vögel und anderer Thiere, aus den Eingeweiden und dem Blute der Opferthiere, dem Rauch und der Flamme, aus dem Wasser und aus den Gestirnen, aus Linien und Strichen des Gesichts, der Hände und aus allerhand vermeintlichen Vorzeichen, wohin das Begegnen von Menschen und Thieren, selbst das zufällige Verwechseln der Schuhe und die Sortes oder Loose gehörte. (S. Auguren, Haruspex, Orakel und Propheten.) Dergleichen Loose waren Stücke Holz, Würfel, Kugeln und andere Körper mit Buchstaben und Zeichen, und aus Dem, was beim Wurfe damit oben zu liegen kam, ward die Zukunft gedeutet. Dasselbe geschah aus zufällig aufgefundenen Versen des Homer (Sortes Homericae) bei den Griechen, und des Virgil bei den Römern (Sortes Virgilianae), welcher Aberglaube sich auch in die christlichen Zeiten fortpflanzte und mitunter noch sogar bei uns herrscht. Es werden dazu die Propheten, Evangelien und die Briefe der Apostel misbraucht und ein zuweilen bei Beobachtung besonderer Ceremonien aufgeschlagener Vers wird bei diesen sogenannten Sortes sanctorum als Orakel ausgelegt, welche päpstliche Verbote und Kirchenbann nicht zu vertilgen im Stande waren. Die alten Deutschen schrieben vorzüglich manchen [639] Weibern die Gabe der Weissagung zu (s. Alrunen), aber auch jeder Familienvater konnte durch Looswerfen die Zukunft erforschen; auch aus dem Wiehern der Pferde und dem Fluge der Vögel wahrsagten sie und das Begegnen gewisser Thiere bedeutete auch ihnen bald Gutes, bald Böses. Einen Wolf sehen sollte z.B. Glück, einem Hafen begegnen Unglück vorbedeuten, welcher Aberglaube mit andern, selbst bei gebildeten Nationen, noch nicht vergessen ist, wie denn auch Kartenschlägerinnen und Wahrsagerinnen, die aus dem Kaffeesatz und aus der Hand prophezeien, noch immer ihr Wesen treiben, obgleich strenge Verbote wider dergleichen abergläubige, zu großen Betrügereien verleitende Dinge bestehen. Die Chiromantie (s.d.) und die Astrologie gehören ebenfalls in dieses Gebiet.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 639-640.
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