Gelübde

[364] Gelübde. Der Schiffer, vom Sturme in ein unbekanntes Meer verschlagen, der Pilger in finsterer Nacht auf rauhen Pfaden, der Wanderer in der Wüste, der die Oase und die labende Cisterne verfehlt, der Kranke an der Todespforte, wendet sich in seiner höchsten Noth zu Gott, Hilfe und Rettung flehend. An sein brünstiges [364] Gebet kettet sich das Gelübde. Wenn er den Hafen, wenn ex das gastliche Obdach findet, verspricht er dem Herrn ein Dankesopfer anzuzünden, oder er gelobt, den leidenden Brüdern, die gleich ihm geduldet und noch dulden werden, ein Wohlthäter zu sein. Aber auch im Uebermaße irdischer Freuden, in außerordentlichen Glücksfällen, wo der Mensch dankbar das Walten der Vorsehung verehrt, entstehen Gelübde – sein Dank wird Liebe, innige Liebe zur Menschheit. – So waren und sind noch Kreuzzüge, Wallfahrten, die Stiftungen von Kirchen, Klöstern, Hospitälern etc. die Ergebnisse von Gelübden. Israel gelobt seinem Gotte einen Altar, wenn er es wieder heimführt in das Land seiner Väter; Jephtha gelobte seine Tochter und brachte mit blutendem Herzen das größte Opfer; der Grieche versprach den zürnenden Göttern eine Hekatombe, der Ritter des Mittelalters nahm das Kreuz und focht für den Glauben gegen die Heiden, oder er gründete Klöster, wo Laienbrüder oder Laienschwestern für ewige Zeiten dem Herrn danken sollten. Man stiftete auf diese Art jährliche Messen, Brod- oder Geldvertheilungen an Arme, Aussteuer für arme Bräute etc. Der Muselmann gelobt eine Pilgerfahrt nach Mekka zum Grabe des Propheten, der gläubige Hindus wallfahrtet nach dem Ufer des Ganges, der Parse zu den brennenden Naphtaquellen. So sind denn aus dem kindlich-frommen Glauben, der Himmel lasse auf ein menschliches Gelöbniß Hilfe und Rettung folgen und ändere seinen allweisen Beschluß, wenn er Reue und inniges Vertrauen im zitternden Menschen erkannt, viele der trefflichsten Anstalten, die segenbringend für die Menschheit wurden, entstanden; und wenn sonach Gelübde aus einem Mißverständniß der Weisheit und Allmacht des höchsten Wesens, dessen Beschlüsse unabänderlich sind, das mit heiligem, ewigem Ernste waltet, oder auch aus Aberglauben entstanden: so wurden sie doch in ihren Folgen eben so wichtig als heilbringend.

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Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 4. [o.O.] 1835, S. 364-365.
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