Ding an sich

[148] Ding an sich heißt bei Kant (1724-1804) das den Erscheinungen zu Grunde liegende, außerhalb unseres Bewußtseins existierende Wirkliche; es ist die Idee eines übersinnlichen Grundes der Vorstellungen; es enthält nur den Grund, das Vorstellungsvermögen sinnlich zu bestimmen; aber es ist nicht selbst der Stoff der empirischen Anschauung. Es ist vielmehr für uns ein völlig unbekanntes X. Kant hält Raum und Zeit nicht für etwas Reales oder den Dingen objektiv Anhängendes, sondern nur für Formen der äußeren und inneren Anschauung. Aus dieser transscendentalen Idealität von Raum und Zeit folgert er, daß die räumlich und zeitlich bestimmten Außendinge nur Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, daß überhaupt alle Objekte unserer Anschauung nichts als Erscheinungen (Phänomene) sind; der nicht in die Sinne fallende, völlig unbekannte Grund derselben ist das Ding an sich. – Diese Ansicht Kants ruft manchen Einwand hervor. So richtig es zunächst ist, an der Wahrnehmung ein subjektives und objektives Element zu unterscheiden und zu betonen, daß unseren Sinnen nicht die Dinge, wie sie sind, sondern nur die Vorstellungen von den Dingen entstammen, so mißlich ist es, an der Wahrnehmung Form und Inhalt zu trennen und jene als Raumzeitlichkeit abzusondern. Der sinnliche Stoff unserer Erkenntnis, der auf den Empfindungen beruht, ist ebensosehr nur Bewußtseinsinhalt, wie die[148] sinnliche Form. Andrerseits genügt die Absonderung der Anschauungsformen Raum und Zeit von den Gegenständen, unserer Erkenntnis nicht, um zu ihrem Wesen zu gelangen Auch die Denkkategorien, die dann übrig bleiben, sind nur im Bewußtsein zu finden und müssen ebenso wie die Anschauungsformen von dem wirklichen Dinge außerhalb unseres Bewußtseins abgezogen werden. Dann behalten wir aber nicht, wie Kant annimmt, die Noumena (nur begrifflich gedachte Dinge, die als leere Begriffe dem Ding an sich korrespondieren), sondern schlechterdings nichts übrig. Das Reelle läßt sich nicht auf dem von Kant eingeschlagenen Wege der Scheidung von Sinnlichkeit und Verstand finden, sondern es ist das uns ohne unseren Willen in der Erfahrung durch die Empfindung Gegebene und kann immer nur in den Formen des Bewußtseins erfaßt werden. Das Ding an sich ist eben, wie Schopenhauer (1788-1860) schon bemerkte, für das Bewußtsein das Ding für mich, d.h. Objekte gibt es nur für Subjekte, und die Außenwelt wird von uns nach Maßgabe unserer Sinneswahrnehmung und in den Gesetzen unseres Verstandes erkannt. Der Begriff Ding an sich widerspricht also dem Begriff des Bewußtseins überhaupt und gehört nicht in die Erkenntnistheorie. Also hat es absolut keinen Zweck, sich außerhalb metaphysischer Hypothesen in der Erkenntnistheorie mit Aufstellung des Begriffs des Dings an sich zu plagen.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 148-149.
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