An-sich

[47] An-sich = dem eigenen Sein nach, unabhängig vom erkennenden Bewußtsein und dessen Formen, in metaphysischer Wirklichkeit und Wahrheit. Gegensatz: Erscheinung, Für-uns-sein, Objectivation. Das »An-sich« der Dinge = der jeder Erscheinung zugrunde liegende, »transcendente« Factor.

Der Gegensatz von »An sich« (svagam-bhu) und Erscheinung findet sich schon in der indischen Philosophie. DEMOKRIT lehrt, die Atome (s. d.) seien in Wahrheit, an sich (eteê), die Sinnesqualitäten nur in unserer Meinung (nomô). Die Scholastiker unterscheiden das »esse in re« (dingliche Sein) vom »esse in intellectu« (Gedachtsein). Nach DESCARTES erfahren wir durch die Sinne nicht, wie die Dinge »in se ipsis« sind (Pr. phil. II, 3). MALEBRANCHE spricht geradezu von den »choses en elles-mêmes« (Rech. I, préf.); so auch FÉNELON[47] (De l'ex. d. Dieu p. 195 ff.). SPINOZA versteht unter der »intuitiven« Erkenntnis ein Erfassen des Wesens der Dinge, während die »imaginatio« (s. d.) uns die Dinge von einem beschränkten Standpunkt aus zeigt (Eth. II, prop. XL, schol. II). LEIBNIZ stellt die Verstandeserkenntnis der Dinge ihrer bloß »verworrenen« Vorstellung durch die Sinne gegenüber. BONNET: »chose en soi« – »ce que la chose parait être« (»chose par rapport à nous«) (Es(s. d.) Psych. C. 36). LAMBERT: »Die Sache an sich« – die Sache, »wie wir sie empfinden, vorstellen« (Organ. Phän. I, § 20, § 51). KANT bringt den Gegensatz von »Ding an sich« (s. d.) und »Erscheinung« (s. d.) zu fundamentaler Bedeutung. »An sich« ist nach ihm das Sein, unabhängig sowohl von den Anschauungsformen als auch von den Formen des Denkens, es ist das positiv durchaus Unbestimmbare, Unerkennbare, nicht bloß ein »ens rationis« gegenüber den Sinnesobjecten. Später wird diese Bedeutung des »An-sich« beibehalten (Neukantianer, die teilweise ein An-sich negieren, nur Bewußtseinsinhalte kennen) oder dahin modificiert, daß als »An sich« das vom erkennenden und wollenden Subjecte unabhängig Existierende betrachtet, aber doch auf positive Weise etwa analog dem eigenen Ich bestimmt wird (z.B. WUNDT). Im Sinne SCHELLINGs meint u. a. CARRIERE: »Indem sich mittelst unserer Empfindung die Natur zur Welt der Töne und Farben steigert, wird das An-sich der Dinge verwirklicht; es bringt sieh in der eigenen Lebensgestaltung hervor und wird dadurch zugleich für andere« (Ästh. I, 100). (Ähnlich FECHNER, BR. WILLE.) Nach GUTBERLET kann das An-sich der Dinge durch die Erscheinungen, in denen es sich manifestiert, erkannt werden, wenn auch nicht vollkommen (Kampf um d. Seele, S. 14; so schon THOMAS). Vgl. Ding an sich, Erscheinung, An-sich-Sein.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 47-48.
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