Tektōnik

[381] Tektōnik (griech.), die Lehre von der gesetzmäßigen Umbildung der baulichen Werkform in die Kunstform. Um kraft eines ihm angebornen Triebes seine zunächst aus dem nackten Bedürfnis heraus entstandene bauliche Schöpfung zu verschönern, zu beleben und zu erklären, mit andern Worten: sie zum Kunstwerke zu erheben, formt der Mensch sie um, und zwar meist nach den in der Natur enthaltenen Vorbildern. Mit Vorliebe entnimmt er, insbes. auf fortgeschrittener Kulturstufe, die Vorbilder dem Pflanzenreich; doch auch die andern Naturreiche werden herangezogen. Die Werkform des einfachen, roh behauenen, länglich parallelepipedischen Steinblockes würde praktisch genügen, die Last des griechischen Tempelgebälkes zu stützen. Künstlerisch genügte sie dem hochentwickelten Hellenen nicht; er suchte nach Vorbildern in der Natur, die ihm die Funktionen versinnbildlichen, die seine Stütze im baulichen Organismus erfüllen soll, und so schuf er die Säule mit ihren Teilen. Diese gesetzmäßige Durchbildung der griechischen Architektur hat Bötticher in seiner »T. der Hellenen« nachgewiesen und damit auf Jahrzehnte die Berliner hellenistische Architekturschule grundlegend beeinflußt. Man braucht diese stark zugespitzte Lehre keineswegs in allen ihren von Bötticher gezogenen Konsequenzen anzunehmen, kann sich über den in mancher Beziehung zweifelhaften Wert ihres Einflusses auf die genannte Schule auch durchaus klar sein, und man wird doch anerkennen müssen, daß eine Baukunst, will sie nicht in gänzliche Willkür verfallen, sich die Lehre der T. in ihrem Kern aneignen muß. Es fußen alle gesunden, mustergültigen Bauweisen, trotz scheinbaren Widerspruchs auch die mittelalterlichen, mehr oder weniger auf tektonischen Grundsätzen, und diese werden auch, wenn nicht streng im Sinne Böttichers, so ihrem eigentlichsten Wesen nach nicht nur von den bedeutendsten neuern Architektur- und Ornamentlehrern, wie Semper, Viollet le Duc, Jacobsthal etc., angenommen, sondern mehr oder weniger auch von allen heutigen Architekturschulen geübt. Vgl. K. Bötticher, Die T. der Hellenen (2. Aufl., Berl. 1869–81); Mauch, Die architektonischen Ordnungen der Griechen und Römer (8. Aufl. von Borrmann, das. 1896; Ergänzungsheft 1902, Nachtrag 1905); Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten (2. Aufl., Münch. 1879, 2 Bde.); Viollet le Duc, Entretiens sur l'architecture (Par. 1858–72, 2 Bde.) und Dictionnaire raisonné del'architecture française (das. 1854–69, 10 Bde.); Jacobsthal, Grammatik der Ornamente (2. Aufl., Berl. 1880); Meurer, Pflanzenformen (Dresd. 1895). – Im geologischen und mineralogischen Sinne bedeutet T. die Lehre vom Bau der Gebirge, der Kristalle etc.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 381.
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