Wiertz

[614] Wiertz (spr. wjärß), Anton Joseph, belg. Maler, geb. 22. Febr. 1806 in Dinant, gest. 18. Juni 1865 in Brüssel, einer der begabtesten, phantasievollsten und bizarrsten Künstler des 19. Jahrh., zeigte schon frühzeitig ein hervorragendes Zeichen- und Nachbildungstalent, kam 1820 nach Antwerpen, wo er Herreyns und van Bree zu Lehrern hatte, und gewann 1832 den römischen Preis. In Rom widmete er sich besonders dem Studium Michelangelos. Ihm schwebte als künstlerisches Ideal die Verbindung von Michelangelo und Rubens vor, und dieses Ideal suchte er schon in seinem ersten kolossalen Bilde: dem Kampf der Griechen und Trojaner um den Leichnam des Patroklos (1836), zu verwirklichen. 1836 in die Heimat zurückgekehrt, nahm er seinen Wohnsitz in Lüttich, wo er sich mit Porträtmalen ernährte und daneben in einer ihm von der Stadt überlassenen, nicht mehr benutzten Kirche ein noch größeres Gemälde als sein erstes ausführte: die Empörung der abtrünnigen Engel (1842). 1840 erhielt er infolge eines Preisausschreibens der Stadt Antwerpen den ersten Preis für eine Abhandlung: »Éloge de Rubens«, und 1848 ließ er sich in Brüssel nieder, wo er in demselben Jahr sein Hauptwerk, den Triumph Christi in seinen Folgen für die Kulturentwickelung der Menschheit, vollendete. Sein Leben fristete er nach wie vor mit der Porträtmalerei, da er, trotz kolossaler Angebote, sich nicht entschließen konnte, eins seiner Bilder zu verkaufen. 1850 wurde ihm auf Staatskosten nach seiner Zeichnung ein großes Atelier erbaut, das nach seinem Tod in das Musée W. umgewandelt wurde. Um diese Zeit verwandte W. mehrere Jahre auf Erfindung und Vervollkommnung eines neuen technischen Verfahrens, der sogen. Peinture mate auf Leinwand. Gleichzeitig begann eine neue Periode seines Schaffens, in der an die Stelle der religiösen und mythologischen Vorwürfe philosophische Gedanken spekulativer, mystischer, humanistischer und transzendentaler Natur oder seltsame Träume und Visionen, Ausgeburten einer überreizten und krankhaften Phantasie traten, bei denen er sehr oft die Grenzen des Darstellbaren überschritt und sich auch von Roheiten und Geschmacklosigkeiten nicht fernhielt. Seine Hauptwerke dieser Gattung sind: einer der Größten der Erde, das verbrannte Kind, die Romanleserin, der lebendig Begrabene, Hunger, Wahnsinn und Verbrechen, der Selbstmörder, Gedanken und Visionen des Kopfes eines Hingerichteten, die Waisen, eine Szene in der Hölle (mit Napoleon), der Leuchtturm von Golgatha, Christus und der Kampf der Parteien, die letzte Kanone, die Dinge der Gegenwart vor den Menschen der Zukunft, eine Sekunde nach dem Tode. Einige der sensationellsten sind noch dazu so aufgestellt, daß man sie wie durch ein Schlüsselloch als wirkliche Geschehnisse erblickt. W. hat aber auch Genrebilder gemalt, in denen er Anmut der Formenbildung und liebenswürdigen Humor zeigt. In seinen letzten Jahren hatte sich W. auch wieder der Skulptur zugewendet, die er schon in früher Jugend gepflegt. Seine Schriften (»École flamande de peinture«, 1864; »Peinture mate«, aus dem Nachlaß, 1868, u. a.) erschienen gesammelt als »Œuvres littéraires de A. W.« (Brüss. 1869). Vgl. Labarre, Antonie W. (Brüss. 1866), [614] Claessens, Wiertz (das. 1883); »Catalogue of the Wiertz-Museum« (Brüssel 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 614-615.
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