Fünfte Periode.

Die Philosophie der Gegenwart.

[363] (1840 bis jetzt)


Von einer eingehenden geschichtlichen Gesamtbehandlung der Philosophie seit 1840 haben sich die meisten Philosophiehistoriker bisher ferngehalten. Der betreffende Band von Windelband (G. d. n. Philos.) ist nicht mehr erschienen, Falckenberg behandelt erst neuerdings diese Periode ausführlicher, Höffding65 endet mit 1880, J. E. Erdmann mit 1860, Zeller und Baumann bringen fast nichts; nur Ueberweg gibt in gewohnter Weise reiches Material. Manches Belehrende über die verschiedenen Richtungen der Gegenwart bietet außerdem O. Külpe, Einleitung in die Philosophie (7. Aufl. 1915), desgleichen dessen Büchlein Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland (Teubner, 6. Aufl. 1914). In der Tat liegt hier dem Historiker der Philosophie eine äußerst schwierige Aufgabe ob. Nicht nur, daß wir in der neuesten philosophischen Bewegung noch mitten innestehen und das Urteil daher notwendigerweise subjektiv ausfallen muß: noch mehr ist es die immer stärkere Verflechtung der philosophischen Bestrebungen mit den allgemeinen (literarischen, sozialen, religiösen) Tendenzen der Zeit, sowie mit den Einzelwissenschaften, die auch die beste Darstellung notgedrungen unvollkommen erscheinen läßt. Gleichwohl hat unser Buch diesen für die Gegenwart interessantesten Abschnitt der Philosophiegeschichte nicht ausschließen oder auf ein Minimum beschränken zu dürfen geglaubt. Wir haben wenigstens eine Charakteristik[363] sämtlicher stärker hervortretenden Richtungen zu geben versucht und hoffen keine bedeutende und erfolgreiche Erscheinung übergangen zu haben. Besonders schwierig war die Frage der Gruppierung; über sie kann man natürlich sehr verschiedener Meinung sein. Wir haben uns nach wiederholten Erwägungen für eine in erster Linie dem historischen Entwicklungsgange folgende Darstellung als den einfachsten und anschaulichsten Weg entschieden. Wir schildern demgemäß in sechs Kapiteln: 1. den älteren Positivismus in Deutschland (Junghegelianer, Feuerbach), Frankreich (Comte) und England (Mill), als die bedeutsamste Richtung der 40er Jahre [Kap. XX]; 2. den naturwissenschaftlichen Materialismus der 50er Jahre und seinen spiritualistisch-theologischen Gegenpart [XXI]; 3. die Entwicklungsphilosophie (Darwin, Spencer) [XXII]; 4. idealistische Systembildungen auf naturwissenschaftlicher Grundlage (Fechner, Lotze, Hartmann, Wundt) [XXIII]; 5. den um die Mitte der 60er Jahre wiedererwachenden Kritizismus (Neukantianismus) und verwandte Richtungen der Gegenwart [XXIV]; 6. die zwar an den Junghegelianismus anknüpfende, aber erst in den beiden letzten Jahrzehnten zu tieferer Wirkung gelangte Philosophie des Sozialismus und des ihm entgegengesetzten extremen Individualismus (Stirner, Nietzsche) [XXV], um 7. mit einem zusammenfassenden Ausblick auf den gegenwärtigen Stand der Philosophie und ihrer Einzeldisziplinen in den verschiedenen Kulturländern zu schließen [XXVI].

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 2, Leipzig 51919, S. 363-364.
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