Die Grafen zu Stolberg

[419] Die Grafen zu Stolberg (Christian und Friedrich Leopold), zwei Brüder, die unter Deutschlands noch lebenden Dichtern eine sehr vorzügliche Stelle behaupten; indem ihnen das doppelte Verdienst gehört, nicht allein sich selbst nach den Meisterwerken der Griechischen Dichtkunst gebildet, sondern auch zu einer allgemeinen Verbreitung des Geschmacks an diesen Dichterwerken sehr viel beigetragen zu haben. Unstreitig ist auch ihre Liebe zu den Wissenschaften die vorzüglichste Ursache, daß sie schon seit mehrern Jahren in einer, bei Personen ihres Ranges seltenen, Entfernung von öffentlichen Ehrenstellen leben. Denn Christian, der ältere Bruder (geb. zu Hamburg, am 15. Octbr. 1748), königlich Dänischer Kammerjunker und Amtmann zu Tremsbüttel in der Holsteinischen Landschaft Stormarn, legte diese Stelle im J. 1800 freiwillig nieder, und lebt seitdem auf seinem Gute Windabye im Holsteinischen; eben so lebt Friedrich Leopold (geb. zu Bramstedt im Holsteinischen, am 7. Novbr. 1750), der zuletzt Präsident der Regierung zu Eutin und Ritter des Russischen Alexander-Newsky-Ordens war, seit eben diesem Jahre als Privatmann in Münster. Daß er unmittelbar vorher mit seiner ganzen Familie – die älteste Tochter ausgenommen – zur katholischen Kirche überging, erregte allgemeine Bewunderung, und setzte mehrere Federn in Bewegung. Er war es, der unter beiden Brüdern zuerst als Schriftsteller auftrat, und eine Deutsche Uebersetzung von Homers Iliade lieferte, von der im J. 1793 schon die dritte Auflage erschien; seine Jamben (Leipz. 1784.) erwarben ihm bald nachher eine ehrenvolle Stelle unter den Deutschen Satirikern. Allein auch Christian, der bereits seit dem J. 1779 sich als keinen unbedeutenden Dichter gezeigt hatte, erlangte mit seinem Bruder gleichen Ruhm durch seine Deutsche Uebersetzung des Sophokles (Leipz. 1787). In eben diesem Jahre [419] erschienen die von beiden Brüdern gemeinschaftlich bearbeiteten Schauspiele mit Chören (1. Band). Sie wurden zwar nur mit getheiltem Beifall aufgenommen, und blieben auch bis jetzt ohne Fortsetzung; allein sie sind vielleicht für das Deutsche Theater von Wichtigkeit, indem sie den ersten Versuch enthalten, die Griechische Tragodie für die Deutsche Bühne brauchbar zu machen, und besonders den Chor der Griechen auf ihr wieder einzuführen. Sollte daher Schillers Braut von Messina, die bekanntlich in gleicher Absicht bearbeitet ist, wirklich eine dauernde Epoche in der Deutschen Schauspielkunst machen, so maß man, ohne Schillers Ruhm zu nahe zu treten, eingestehen: daß er nur mit mehrerm Erfolg eine Bahn betrat, welche die Gebrüder Stolberg zuerst brachen.

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Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 5. Amsterdam 1809, S. 419-420.
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