Ahasverus

[38] Ahasverus oder der ewige Jude, dessen Schicksale der Gegenstand einer der großartigsten und tiefgedachtesten christlichen Legende sind, die wahrscheinlich im 13. Jahrh. in Folge einer Äußerung Christi im Evang. Joh. 21, 22, 23 entstand und auf das jüdische, in alle Welt zerstreute, nirgends einheimische Volk zu deuten ist, soll ein Schuhmacher in Jerusalem gewesen sein. Als nämlich Christus, so lautet die Legende, auf seinem letzten Gange, vom Tragen des Kreuzes ermüdet, auf einer Bank vor dem Hause A.'s ausruhen will und dieser es nicht gestattet, ruft Christus ihm zu: »Du sollst von nun an wandern und wallen ohne Rast und Ruh, bis daß ich komme.« Und dieser Spruch erfüllt sich. Trotz alles Lebensüberdrusses vermag er den Tod, welchen er sucht, nicht zu finden; vergebens stürzt er sich ins Feuer und in die Fluten des Meeres. Er kämpft in Rom bei den öffentlichen Spielen mit den wildesten Thieren; doch sie tödten ihn nicht. Er leidet als Märtyrer die grausamsten Qualen; aber das glühende Erz, das sie ihm in den Mund gießen, fließt ihm hinab, wie kühlender Trank, und aus den Wunden, die sie ihm schlagen, erblüht ihm neues Leben. Von unendlicher Angst und Wuth getrieben, durcheilt er die Eisfelder des Nordens und den glühenden Sand der Wüste, gibt sich dem Bisse der giftigsten Thiere Preis und saugt an den Beulen der Pestkranken; allein er kann nicht sterben. Nach 400jähriger Qual springt er endlich in den feuerspeienden Schlund des Ätna hinab, aber auch dieser schleudert ihn lebend wieder heraus. Hierauf tritt er in die Reihen der Ungläubigen, um gegen den Christengott zu kämpfen. Da erscheint ihm nach der Eroberung Jerusalems, als er im Begriffe ist, das heilige Grab anzuzünden, Christus in himmlischer Glorie und er sinkt nieder mit den Worten: »Mein Gott und mein Herr«! Mönche finden ihn im bewußtlosen Zustande und nehmen ihn in ihr Kloster auf; er wird getauft und kann nun sterben. Bis auf die neueste Zeit benutzten Betrüger den Glauben an diese Sage und gaben sich für den ewigen Juden aus, um auf diese Weise durch barmherzige Gaben sich zu bereichern. Auch fehlte es nicht an Leuten, die von Zeit zu Zeit den ewigen Juden unter den verschiedenartigsten Gestalten gesehen zu haben vorgaben.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 38.
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