Geisselungen

[167] Geisselungen kommen schon bei den Völkern des Alterthums nicht nur als Strafe wegen begangener Verbrechen, von Seiten der Obrigkeit angeordnet, vor, sondern auch als religiöse Handlung. Bei den Hebräern war die Geißelung eine von Moses verordnete Strafe, welche nicht unehrlich machte; bei den Römern dagegen galt die Geißelstrafe für entehrend, und röm. Bürger durften daher nicht mit derselben belegt werden. Dieselbe Geistesrichtung, welche in der christlichen Kirche die Klostergelübde und das Fasten einführte, machte auch die Geißelungen zu einer gottesdienstlichen Handlung. Man glaubte nämlich die Herrschaft des göttlichen Geistes und die Besiegung des Fleisches am besten bewerkstelligen zu können, indem man gegen die sinnliche Natur auf alle Weise ankämpfte. Die Geißelungen geschahen überdies in Erinnerung der Schmerzen, welche Christus und die Apostel, die von ihren Verfolgern gegeißelt worden waren, für das Menschengeschlecht ertragen hatten. Sowol in den Klöstern als bei den Laien kam die Selbstgeißelung als Bußübung auf und stieg immer mehr im Ansehen, je allgemeiner die Ansicht wurde, daß Gott um solcher Selbstpeinigung willen dem Sünder seine Sünden vergebe. Man rechnete, daß 3000 Geißelhiebe und das Absingen von 30 Psalmen so viel als Ein Jahr Buße gelten. Der heilige Poppo, um 1050, brachte durch tägliche, dreimal wiederholte Geißelungen, unter Absingung von Psalmen, eine 300jährige Buße zu Stande. Man geißelte sich mit Ruthen, Stricken, Riemen, die oft noch mit Knoten oder Stacheln versehen waren, ja sogar mit Ketten. Ludwig XI., König von Frankreich, trug stets eine elfenbeinene Büchse bei sich, die eine Geißel von fünf Kettchen enthielt, mit der sein Beichtvater ihn geißeln mußte. Ähnliche Büchsen machte er Damen und Herren an seinem Hofe zum Geschenk. Die Selbstgeißelungen waren im 11. Jahrh. besonders von Petrus Damian, Cardinalbischof von Ostia, angelegentlich empfohlen worden, und bald hatte man eine eigne Regel (Disciplin), nach der jene Selbstpeinigung vollzogen wurde. Im 13. Jahrh. artete die Sitte der Geißelung in eine Art allgemeinen Wahnsinns aus. Es entstanden zuerst in Italien, bald aber auch in Frankreich, Deutschland, Böhmen, Polen, von Geißlerpredigern zusammengebrachte Gesellschaften, welche sich Geißelbrüder, Flagellanten, auch Flegler und Bengler nannten und keinen andern Zweck hatten, als unter fortwährender Selbstzüchtigung, Absingung von Bußpsalmen und Anrufung der göttlichen Barmherzigkeit büßend von Ort zu Ort zu ziehen. Als Stifter dieser Flagellanten wird der Einsiedler Rainer in Perugia um 1260 angegeben. Gewöhnlich trugen die Geißler das Haupt verhüllt, den Oberkörper aber völlig entblößt, mm den nackten Körper mit der Geißel bis aufs Blut zerfleischen zu können. Das Umherziehen in großen Banden gab zu drückenden Betteleien und [167] Ausschweifungen aller Art Veranlassung, die Entblößung des Körpers überdies war so anstößig, daß, obschon die Geißelbrüder im Volke unglaublichen Anhang gewannen, die Fürsten und die hohe Geistlichkeit doch bald durchaus gegen sie sich erklärten und endlich zu Gewaltmaßregeln griffen, um dem überhand genommenen Unwesen zu steuern. Bei den Begharden in Deutschland und Frankreich und den Kreuzbrüdern. welche namentlich in Thüringen ihr Wesen trieben, setzte sich das Unwesen der Flagellanten bis ins 15. Jahrh. fort. In Sangerhausen wurden 1414 auf einmal 91 Kreuzbrüder verbrannt, und die Kirchenversammlung zu Kostnitz (1414–18) erließ die strengsten Verordnungen gegen die Geißler. Nach dieser Zeit kam das Geißeln im Allgemeinen immer mehr ab; die Franziskanermönche in Frankreich behielten es noch am längsten bei.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 167-168.
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