Arkadien (das alte)

[290] Arkadien (das alte), (das alte). Ein in hundert und aber hundert poetischen Dichtungen gepriesenes Hirtenland, an dessen Namen sich stets der Gedanke eines ungetrübten idyllischen Glücks knüpft. Göttergeliebt und von Göttern gesegnet, prangte Arkadien mit freundlichen Alphöhen, schattigen Wäldern voll Wildes, grasreichen Triften, von den fettesten Herden durchzogen, und bewässert von heitern Flüssen und Bächen. Es war das fröhlich pulsende Herz[290] des Peloponnes; in seine Berge, seine hochstämmigen Platanenwälder flüchtete sich das Wunder, und die Götter- und Heroensage flüsterte beim Schimmer des Abendrothes dem kräftigen Alpenjäger, dem friedlichem Hirten von Thaten und Abenteuern und zauberischer Liebe. Nach der Flöte des Pan, nach dem Klang der Schallmeien tanzte die Freude in festlichen Chören, und fröhlich taumelnd eilte Alt und Jung zu rauschenden Dionysosfesten hin. Fast jeder Fluß, jeder See, jede Stadt Arkadiens trug im Namen schon die Erinnerung an eine hochgefeierte und gläubigverehrte Gottheit und an schöne Mythen. Doch in diese lichten Farben kleidete das gepriesene Land erst eine spätere Zeit; die altarkadischen Sagen aber thronen düster auf nebelumschleierten Berghöhen, ernst und geheimnißvoll wie schweigende Parzen. Roh und wild und ungesittet waren die Ureinwohner des Landes; noch kannten sie keine Götter, als die Elemente, die um dieser Autochthonen rauhe Wiegen stürmten, und zum heilig unbegreiflichen Sonnenfeuer wandte sich zuerst anbetend das Herz des Volkes, in ihm eine Gottheit ahnend und erkennend; denn so tief wie der Himmalaya Indiens im innersten Kern der Erde, so tief wurzeln in der Menschenseele die Ahnung und der Drang, ein göttliches Wesen über sich anzuerkennen, von ihm Schutz und Erhaltung fordern, ihm dafür danken zu dürfen. Nächst dem reinen Elementarfeuer der Sonne wandten sich Andacht und Verehrung des Urvolks dem Wasser zu, und opferten an Bächen und Quellen, die sein kindlicher Glaube heiligte. Forderten nun auch Luft und Erde, Opfer und Verehrung, so wurde ihnen diese in heiligen Orakelhainen, wo weissagende Götterstimmen durch das Laub der Bäume geheimnißvoll rauschend flüsterten, und auf lustigen Bergscheiteln, wie in dunkeln grausenvollen Höhlen, in tiefen, schaurigen Thälern brannten dort flammende Altare, wurden hier verschleierte Mysterien begangen, bis mehr und mehr die geahneten Götter Gestaltung und Namen gewannen, und ein eifriger Cult mit zahlreichen[291] Priestern und Festen sich ausbildete. Die erste Gestalt, die uns bedeutungsvoll aus den nebelhaften Umrissen der Vorzeit in der Mythengeschichte des Landes entgegentritt, ist Arkas, von dem das Land den Namen empfing, das früher Pelasgia hieß, und den die spätere Mythe zu einem Sohn des Zeus erhob, und ihm die Nymphe Kallisto zur Mutter gab, die eine Tochter des Lykaon war. Lykaon aber war nicht nur ein mythischer Königsname, sondern ein heiliger Opferberg, auf welchem Zeus erzogen wurde; kein Menschenfuß durfte die geweihte Gegend betreten, die Uebertreter fanden noch in demselben Jahre den Tod; dort warfen weder Menschen noch Thiere einen Schatten, und für letztere war der Ort eine heilige Freistatt. Kallisto war die Diana der Arkadier, nach der spätern Mythe jedoch eine Dienerin derselben, von ihr in einen Bären verwandelt, worauf Zeus auch dem Arkas gleiche Gestaltung gab, und beide unter die Sterne versetzte, wo sie als großer und kleiner Bär den Pol umwandeln. Noch bluteten an Bergaltären und Orakelstätten Menschenopfer, und die Nymphe Erato, Gemahlin des Arkas, deutete die geheimnißvollen Sprüche, die Pan ertheilte. Als Zeus zu Lykaon kam, wollte dieser den Gott versuchen, zerstückelte einen Menschen, und setzte dem hohen Gast die gerösteten Glieder vor; zornig rächte sich der Gott. Sein Feuer fraß den Königspalast, und in einen grimmigen Wolf verwandelt, floh Lykaon heulend in den Bergwald. Allmälig wurde ein sanfterer und reinerer Götterdienst in Arkadien heimisch, und nun wurde das Land mit seinen sonnigen Matten, seinen grünen Triften und schattenkühlen Hainen oft von den Göttern heimgesucht, wurde manches Gottes, mancher Göttin blumenumduftete Wiege. So gebar die holde Plejade Maja dem Göttervater den listigen Hermes auf dem Gebirge Kyllene, welcher alsbald dem Apollon eine Rinderherde raubte, und dann mit ihm seine Erfindung, die Lyra, gegen die Sonnengeißel vertauschte. Hermes aber wurde durch die schöne Nymphe Dryopis in Arkadien Vater des[292] Pan, des gefeierten Hirtengottes, des Erfinders der Syrinx, des wälderdurchstreifenden Jagdgottes. Auf den Bergen Likaios und Mänalos wohnte er am liebsten unter dem Schatten ihm heiliger Fichten und Eichen. Auch Pan war ein uralter Elementargott, der in die später ausgebildeten Theogonien eingeschaltet wurde. In weißer Widdergestalt umfing Pan die keusche Selene, und ihm und ihr war in Arkadien eine Grotte heilig. Wenn sich die Natur verjüngte, der Frühling wiederkehrte, wenn der Pan Lykaios, als Sonnengottheit betrachtet, in Widdergestalt den Mond umarmte, d. h. wenn die Sonne in das Zeichen des Widders trat, dann feierte das Volk fröhliche Frühlingsfeste, sang Hymnen den Göttern, opferte Ziegen, Böcke und Hunde, und freute sich bei ländlichen Spielen. Diese Feste wurden auch zu Rom unter dem Namen Luperkalien gefeiert; ja solche Lenzfeier, solches Frühlingsbegrüßen und festlicher Jahresbeginn zog wie ein Memnonklangbegrüßter Aurorastrahl durch den Morgenhimmel aller Völker. Auf mehreren Altären wurde dem Pan ein ewiges Feuer unterhalten. Rhea oder Kybele, die Göttermutter, hatte auf dem thaumasischen Berge bei Methydrium eine geweihte Grotte, in die sie sich geborgen hatte, als sie, schwanger mit Zeus, sich vor dem zürnenden Gatten Kronos flüchtete, kein männlicher Fuß, nur ein opferndes Weib, durfte diese Höhle betreten. Auf dem eläischen Berge bei Phigalia war der Demeter eine ähnliche Grotte geweiht. Aber gleich Pan, war auch Dionysos ein Frühlingsgott, ein feuergeborner Sohn des Zeus, und wenn auch nicht »in Arkadien geboren,« doch dort verehrt; und Pan war mit ihm auf dem großen Zuge durch Indien, sein Krieger, der einst durch weitschallenden Schreckruf auf diesem Zuge die Feinde mit Entsetzen erfüllte, daß sie muthlos flohen, wie er sich auf gleiche Weise hilfreich gezeigt hatte, als, auch in Arkadien, bei dem Quell Olympias, die Giganten mit den Göttern gestritten.–Auch Geburtsland der Here (Juno) zu sein, durfte sich Arkadien rühmen. Temenos zu Stymphalos[293] pflegte ihre Jugend. Selbst der Meerbeherrscher Poseidon, sonst vorzugsweise von Strand- und Inselbewohnern verehrt, sollte, als Gott der Pferde, in dem bergumgürteten Arkadien, am Quell Arne wohnen, vielleicht weil er die Nymphe Arne, des Aeolus Tochter geliebt, vielleicht weil seine Amme Arno hieß. Gleiche Verehrung weihten die Arkadier der Aphrodite, dem Asklepios, den Dioskuren. Einen Theil seiner ruhmwürdigen Thaten verrichtete Herakles in Arkadien. Am Flusse Ladon fing er die Hindin der Artemis lebendig, deßgleichen auf dem wildreichen Gebirg Erymanthus den davon benannten ungeheuern Eber; und aus dem sumpfigen See Stymphalos scheuchte er durch eherne Klappern die schrecklichen Stymphaliden, die er durch Pfeile erlegte, so wie sie aufflogen. So von zahllosen Göttermythen durchklungen, ward Arkadien, namentlich sein südwestlicher Theil, als eine heitre paradiesisch blühende Welt, gedacht, welche zumal von spätern Sängern mit allem Zauberreiz der Poesie umkleidet, so hoch gefeiert, so anmuthreich geschildert wurde, daß des Landes Schönheit und Lieblichkeit zum Sprichwort geworden, und daß alle süße Tändelei zärtlicher und unschuldvoller Liebe an murmelnden Bächen, unter flüsternden Hainen, neben sanft hingelagerten Herden bei einem unverdorbenen Hirtenvolke nach Arkadien verlegt wurde. Wenn nun auch die Wirklichkeit hinter dem so freundlichen Ideal zurückblieb, so zeugten doch die vielen Ortschaften von einer zahlreichen Bevölkerung, die großen Herden, theils in den friedlichen Thälern weidend, theils die Hochebenen abgrasend, von einem gewissen Reichthum der Bewohner und eine fruchtbare, üppige Vegetation, immer frisch und grün und blühend, schien ganz geeignet, zum traulichen Verweilen, zum süßen Liebeskosen einzuladen. Und nun? Wo und was ist das idyllische Wunderland jetzt? Noch schatten die Haine des Plataniston, noch durchrauscht scheues und flüchtiges Wild die Wälder des Mänalus, noch wandeln weidende Herden in großer Zahl an den grasreichen Ufern des Alpheios, aber die [294] Poesie ist geflüchtet, die Päane zu Ehren des Pan, die orphischen Hymnen sind verhallt, die heiligen Opferflammen verlodert. Die Berge und Haine sind götterleer. Die blühenden Städte sanken in Trümmer; manche verschwanden spurlos, von manchen erzählt noch bemoostes Ruinengemäuer, und ein halbverklungener Name, daß sie gewesen. Die Hauptstadt Megalopolis, die über 50 Stadien im Umfang hatte, mußte mit Tegea und Mantineia ihre Steine liefern, um Tripolizza zu erbauen. Ob auch dieser verblühten, in Todesschlaf versunkenen Herrlichkeit ein Auferstehungsruf erschallen wird? Wer weiß! – Für sinnige Leserinnen sei hier noch bemerkt, daß unter so vielen Schriften, die mit mehr oder weniger Glück arkadisches Leben, arkadische Sitten schildern, das Werk eines fürstlichen Dichters, des verewigten Herzogs August von Sachsen-Gotha: »Ein Jahr in Arkadien,« den ersten Rang mit einnimmt, und einen wahrhaft klassischen Geist athmet, während eine Unzahl den Griechen Theokrit nachahmender Idyllendichter den Schauplatz ihrer einschläfernden Poesien nach Arkadien, in das glückselige Schäferland verlegte, und die frischgrüne Trift der Dichtkunst damit unter Wasser setzte. Zum Glück wich diese Schäferpoesie, die so mächtig um sich griff, daß sie als Spiel in das Leben übergetragen wurde, und daß man schöngepuderte Arkadierinnen im Reifrock buntbebänderte Lämmer weiden sah, und sie einander mit den süßen Namen Daphne, Chloe, Doris etc. rufen hörte, bald einem bessern Geschmack, und man vergaß diese zwecklosen Tändeleien, die nicht einmal einen wahrhaft dichterischen Reiz hatten.

–ch–

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 290-295.
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