Napoleon I., Kaiser der Franzosen

[360] Napoleon I., Kaiser der Franzosen. Kaum 20 Jahre sind vergangen, seit dieses Riesenkind der franz. Revolution, er, dem die Geschichte keinen Nebenbuhler an die Seite setzen kann, für immer vom Schauplatze der Welt abtrat, und schon klingt sein Name und sein Leben wie eine Reihe von Märchen, die wir anstaunen, aber nicht zu fassen vermögen! Allein unvergänglich hat er seine ehernen Fußtapfen drei Welttheilen eingedrückt und Jahrtausende noch wird man von dem Heldenspiele erzählen, das er von den Katarakten des Nils bis an die eisigen Ufer der Moskwa aufführte. Ist doch sein Name heimisch in Arabiens Wüsten, wo am Abende im Zelte der Aelteste des Stammes vom Sultan Buonaberdi und seinen Wundern erzählt, wie auf den Inseln der [360] Südsee und an den Ufern der Seine und Weichsel. – Nur Umrisse jener neuen Ilias können hier gegeben werden, deren Homer immer noch fehlt. Napoleon, der zweite Sohn Karls Buonaparte, wurde am 15. Aug. 1769 in Ajaccio auf der Insel Corsica geboren. Wollte die Vorsehung der Welt ein Zeichen von der Geburt ihres künftigen Herrn geben oder war es Zufall, ein furchtbares Gewitter überfiel die hochschwangere Madame Lätitia (s. d.) beim Zuhausegehen aus der Kirche, und sie gebar den Cäsar auf der Treppe ihres kleinen Hauses, deren Teppich Heldengemälde aus längst geschwundenen Zeiten zeigte, während der Himmel in Flammen stand und die Erde bebte. Aus den Kinderjahren N's ist wenig bekannt; sein ungeheueres Genie zeigte sich aber schon auf der Militairschule zu Brienne, wo er sich bald zum Herrscher seiner Mitschüler aufschwang. Wir finden ihn 1785 als Lieutenant zu Valence; hier machte Fräulein Colombier einen lebhaften Eindruck auf sein jugendliches Herz, doch betrachtete er eine Verbindung seiner Armuth wegen als unmöglich, und das Glück der beiden Liebenden bestand darin, zusammen Kirschen zu essen! Der Krieg, im Gefolge der franz. Revolution, rief ihn bald zu ernstern Beschäftigungen, und durch die Kanonen von Toulon (1793) erfuhr Europa zum ersten Male von einem Jünglinge, der die Geschichte der nächsten 25 Jahre ausfüllen sollte. Am 8. März 1796 vermählte er sich mit Josephine, verw. Beauharnais (s. d.); wie innig er sie liebte, bezeugen die jetzt bekannten authentischen Briefe. In demselben Jahre begann der Feldzug in Italien. Die Reihe der nun folgenden unsterblichen Siege, jene Heldenfahrt nach Aegypten, die den Zug der Argonauten vergegenwärtigt, die Rückkehr nach dem in seiner Abwesenheit besiegten Vaterlande, seine Erhebung zum ersten Consul (1799), Alles gleicht mehr Wundern, als erlebten Ereignissen. Neue Siege bahnten den Weg zum allgemeinen Frieden, den England aber zuerst 1803 wieder brach. Das dankbare Frankreich wollte Napoleon zum Kaiser, und am 2. December[361] 1804 sah die Welt das merkwürdige Schauspiel seiner Krönung durch Papst Pius VII.; Italien aber nannte ihn König. Die Parteiungen hörten auf, überall unter seinem Zauberscepter entstanden Denkmäler und Bauwerke, von denen die Simplonstraße vielleicht das größte. Die Kriege mit Oestreich, Preußen und Rußland 1805–9 brachten neue Triumphe. Nur Spanien wollte sich des Kaisers Anordnungen nicht fügen; England aber, durch seine insularische Lage gesichert, wurde durch das großartige Continentalsystem an den Rand des Abgrundes gebracht. Josephine hatte N. keine Kinder geboren, die Sorge für die Zukunft seiner Völker bestimmte ihn zur Trennung von ihr. Am 2. April 1810 empfing Paris seine neue Kaiserin, die Tochter aus Habsburgs Stamme (s. Maria Luise). Die Geburt eines Sohnes (1811), der schon in der Wiege den Namen eines Königs von Rom trug, schien N's Reich für immer zu begründen. Er stand im Zenith seiner Größe; die Herrschaft über den größten Theil Europa's war errungen, seine Geschwister trugen Kronen. Da nahte das Unglück; der Gigantenzug nach Rußland (1812) mißlang trotz aller Siege, 300,000 jener tapfern Krieger, mit deren Hilfe der Imperator Alles gebeugt hatte, erlagen dem schrecklichen Klima. Jetzt erhob sich ganz Europa, der Kampf von 18!3 und 14 zeigte zwar noch oft die Furchtbarkeit des verwundeten Löwen, am Ende sah er sich aber durch 10fache Ueberlegenheit, wenn auch nicht besiegt, doch erdrückt. Die kleine Insel Elba dem Frankreich in seinen alten Grenzen vorziehend, entsagte N. am 11. April 1814 der Krone, betrat aber bereits den 1. März 1815 von Neuem Frankreichs Boden, und binnen wenigen Tagen hatte sein Name die Bourbons vertrieben. Der neue Kampf gegen ganz Europa, obgleich glänzend begonnen, endete mit der Schlacht von Waterloo (18. Juni 1815). Die Glücksgöttin verließ hier ihren Liebling ganz; der fast schon errungene Sieg wurde zur harten Niederlage. Nach der zweiten Abdankung nur den Wunsch hegend, seine Tage als Privatmann in [362] England zu beschließen, bestieg er am 15. Juli 1815 ein Schiff dieses von ihm früher wohl hart bedrängten, aber nie ganz besiegten Feindes. Wie dieser sein Vertrauen täuschte und ihn durch den berüchtigten Hudson Lowe auf St. Helena bewachen und gleichsam langsam zu Tode martern ließ, ist bekannt. Der Sieger in mehr als hundert Schlachten, der durch ein Wort Kronen nahm und verschenkte, mußte auf dem Krankenlager vergebens die Erquickung einer Apfelsine verlangen! Wohl hat Anastasius Grün Recht, wenn er dichterisch andeutet »daß noch unsere spätesten Nachkommen der schrecklichen englischen Gastfreundschaft gedenken werden, und alles Wasser im Meere nicht hinreicht, diesen Flecken aus Englands Geschichte zu vertilgen.« Der Heros, der sein ganzes Leben dem Ruhme Frankreichs geopfert hatte, starb den 5. Mai 1821 in den Armen weniger Getreuen, unter denen Madame Bertrand sich befand. Wien begrub einige Jahre später seinen einzigen Sohn. Hat nun gleich der neue Prometheus ausgerungen und ist auch sein Geschlecht von Europa's Thronen gestürzt: so war doch sein Auftreten zu colossal, als daß es nicht fortleben sollte von Jahrhundert zu Jahrhundert, um Zeugniß zu geben von der Riesenkraft des menschlichen Geistes.

S.

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Damen Conversations Lexikon, Band 7. [o.O.] 1836, S. 360-363.
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