Traum

[518] Traum heißt das mit dem Schlafe verbundene seelische Leben. Es wird ausgelöst von inneren (organischen) und äußeren Reizen, welche aber nicht, wie im Wachen, adäquat aufgefaßt und gedeutet werden, sondern allerhand Vorstellungen auslösen, die in irgend welcher Gefühlsverwandtschaft mit ihnen stehen, sonst aber ganz fremdartig sein können. Die Traumvorstellungen haben, teilweise schon infolge des Wegfalls des Sinnenbewußtseins, nicht die Schwäche gewöhnlicher Erinnerungsvorstellungen, sondern die Lebhaftigkeit und den Object-Charakter von Illusionen oder Hallucinationen. Während die active Denk- und Willenskraft, die active Apperception (s. d.) im Traume vermindert ist, ist das (durch sie ungehemmte) associative und Phantasieleben ein sehr bewegtes. Eine Art »Spaltung« des Ich tritt im Traume öfter ein. Kürzlich gehabte, aber auch lang vergessene Vorstellungen treten im Traume wieder auf, das Widersprechendste combiniert sich miteinander, da die Controlle seitens des logischen Denkens sehr vermindert, sehr lückenhaft ist. »Pathologisch« nennt man solche Träume, in welchen Störungen des Organismus sich in den durch sie ausgelösten Vorstellungen ankündigen. Häufig hat man dem Traumleben einen höheren Wert in Bezug auf Erkenntniskraft als dem Wachsein zuerteilt (»prophetische Träume«). Der Illusionismus (s. d.) ist geneigt, das Leben, die erscheinende Welt für einen »Traum« zu halten.

Auf die eidôla (s. Wahrnehmung) führt den Traum DEMOKRIT zurück: oneirous ginesthai kata tas tôn eidôlôn paratêrêseis (Galen, Hist. philos. 106, Dox. D. 640. Aristot., De div. 2). PLATO erklärt die Traumvorstellungen aus Bewegungen des Leibes, die während des Schlafes übrigbleiben: genomenês de pollês men hêsychias brachyoneiros hypnos empiptei, kataleiphtheisôn de tinôn kinêseôn meizonôn, hoiai kai en hoiois an topois leipôntai, toiauta kai tosauta pareschon aphomoiôthenta entos exô te egertheisin to apomnêmoneuomena phantasmata (Tim. 45 E, 46 A. Rep. IX, 571 C squ.). ARISTOTELES erklärt den Traum aus der Wechselwirkung der von den Wahrnehmungen zurückbleibenden pathê, phantasiai mit den Bewegungen der Sinne, welche aneimenou tou kôlyontos energousin, d.h. bei Wegfall der Hemmung wirksam werden (De insomn. 3, vgl. THEOPHRAST, STRATO: Plac. philos. V, 2, THEMISTIUS, GALEN: VI, 832 f.. II, 573 f., IV, 461, 611, V, 703). (Über Traumdeutung bei ARISTOTELES, den Stoikern u. a. Vgl. Büchsenschütz, Traum u. Traumdeutung im Altertum, 1868. vgl. CARDANUS, CAMPANELLA, De divin.. vgl. L. VIVES, De an. p. 110 ff.. GASSENDI, Synt. II, 2, 21).

Nach CHR. WOLF ist der Traum »ein Zustand klarer und deutlicher, aber unordentlicher Gedanken« (Vern. Ged. I, § 803). Die Träume gehen von einer Empfindung aus und werden von der Phantasie fortgesetzt (l. c. § 123). Nach MENDELSSOHN ist das Träumen »eine Art von Verrückung in eine andere Reihe der Dinge, als diejenige, die uns umgibt« (Morgenst. I, 6). Nach PLATNER ist der Traum »ein unvollkommenes, d. i. mit täuschendem Bewußtsein der Person[518] verbundenes Wachen« (Philos. Aphor. I, § 60). Nach KANT beruht der Traum auf einer unwillkürlichen Agitation der inneren Lebensorgane. Der Traum hat lebenerhaltende Kraft. Kein Schlaf ohne Traum (Anthropol. I, § 36). Nach G. E. SCHULZE sind Träume »diejenigen Erzeugnisse der Tätigkeit des Geistes im Schlafe, deren wir uns nach dem Erwachen wieder erinnern«. »Die Verschiedenheit jener Tätigkeit von der im Wachen besteht vorzüglich darin, daß erstens dabei die Eigenmacht, welche der Mensch wachend über das Wirken der Einbildungskraft auszuüben vermag, gänzlich fehlt oder die Seele bei dem Spiele der Vorstellungen im Traume bloß das Zusehen hat. und daß zweitens das im Traume vorhandene Selbstbewußtsein mehrenteils sehr unvollständig ist« (Psych. Anthropol. S. 276 ff.). Vgl. M. WAGNER, Beiträge zur philos. Anthropol. 1794, I, 204 ff.

Mit dem Hellsehen bringt den Traum SCHELLING in Verbindung (Clar. S. 122). Ähnlich lehrt SCHUBERT (Die Symbolik d. Traumes. Gesch. d. Seele), so auch TROXLER. Nach ihm ist der Traum »die Offenbarungsweise der Wesenheit des Menschen und des Lebens eigentümlichster und innigster Proceß« (Blicke in d. Wes. d. Mensch. S. 133). »Das Wachen ist nur ein Traum der Seele« (l. c. S. 134 ff.. vgl. C. G. CARUS, Vorles. S. 293 ff., BURDACH, STEFFENS, ESCHENMAYER, Psychol. S. 224 ff.). – Nach K. ROSENKRANZ ist der Traum »die Einheit des Schlafs und Wachens, ein Dasein des einen im andern« (Psychol.3, S. 164 f.). »Im Traumleben wird die Subjectivität des Geistes in eine unbestimmte Objectivität aufgelöst« (l. c. S. 166 ff.). »Wird eine solche scheinbare Objectivität während des Wachens hervorgebracht, so entsteht ein Traumwachen« (l. c. S. 168. vgl. MICHELET, Anthropol. S. 165 ff.. J. E. ERDMANN, Grundr. § 29. vgl. LINDEMANN, Lehre vom Mensch. § 340. BIUNDE, Empir. Psychol. I l, 398 ff.. HILLEBRAND, Philos. d. Geist. I, 348 ff.. SCHLEIERMACHER, Psychol. S. 348 ff.). – Nach BENEKE bestehen die Träume in einer beschränkten »Anregung des Bewußtseins während des Vorherrschens der leiblichen Aneigungstätigkeiten« (Lehrb. d. Psychol. § 317 ff.). Nach SCHOPENHAUER sind die Traumbilder von den Phantasiebildern des Wachens specifisch verschieden durch ihre Lebhaftigkeit, Vollendung, ihren Wirklichkeitscharakter, ihre Unwillkürlichkeit, Aufdringlichkeit. Der Traum ist »eine ganz eigentümliche Function unseres Gehirns«. Teilweise ist er dem Wahnsinn ähnlich. Die Träume entstehen (in der Regel) nicht durch äußere Eindrücke, sie werden nicht durch Association herbeigeführt. Vielmehr entspringt der Traum inneren, organischen Reizen, aus der Reaction des Gehirns gegenüber den Einwirkungen des sympathischen Nerven. Diese verlieren sich bis zum Gehirn hinauf und veranlassen das Gehirn zu der ihm eigenen Function der Raum-, Zeit-, Causalitätssetzung, vermittelst deren es die inneren Reize interpretiert. Dieses vom äußeren Eindruck auf die Sinne unabhängige Anschauungsvermögen ist das »Traumorgan« (Parerg. I, 210 ff.). Zwischen Leben und Traum ist kein specifischer und absoluter, sondern nur ein formeller und relativer Unterschied (Neue Paralipom. § 361). Als Ausgleichung gegenüber dem Wachleben betrachtet den Traum ULRICI (Leib u. Seele, S. 387). Nach J. H. FICHTE sind als »Traum« zu bezeichnen »alle diejenigen Bewußtseinszustände, in denen uns, ohne jede unmittelbare Sinneserregung, dennoch in Form sinnlicher Anschaulichkeit Bilder vor das Bewußtsein treten, gleichviel ob unser Urteil, die begleitende Reflexion, ihnen Objectivität beilege (wie im Schlaftraume) oder nicht (Wachtraum)« (Zur Seelenfrage, S. 80). Das »traumbildende Vermögen«, die Phantasie ist stets in[519] uns wirksam (Psychol. I, 508). »Das Objectivieren des Wachens ist ein vollständiges und berechtigtes, das des Traumes ein unvollständiges und darum illusorisches« (l. c. S. 509). Der Traumzustand ist der niedrigere, aber auch reichere, interessantere, »weil ungeahnte Schätze aus der vorbewußten Region darin emporsteigen können« (ib.). Der Traum ist »die symbolische Abspiegelung innerer Zustände« (l. c. S. 535, »Ahnungstraum«, »Heiltraum«. über »Wachträume« vgl. S. 580 ff.). Nach FECHNER ist der Träumende »ein Dichter, der seiner Phantasie die Zügel ganz und gar schießen läßt und ganz zu eine innere Welt versunken und verloren ist« (Elem. d. Psychophys. II, 524). VOLKMANN erklärt den Traum aus dem Wegfalle des »somatischen Druckes« für bestimmte Regionen des Vorstellungslebens (Lehrb. d. Psychol. I4, 417 ff.). HAGEMANN erklärt: »Der Traum ist eine Reihe von unwillkürlichen Einbildungen (Erinnerungen und Phantasiegebilden) während des Schlafes« (Psychol.3, S. 82). Die Beschaffenheit der Träume ist bedingt »a. durch organische Reize, die während des Schlafes auf die Seele einwirken. Die Phantasie bemächtigt sich dieser Empfindungen und schafft daraus bald heitere, bald schreckliche Traumgebilde«. »b. Durch Vorstellungen und Gefühle, welche uns vor dem Einschlafen beschäftigten«. »c. Durch die heitere oder trübe Stimmung, welche uns im Wachen beherrschte« (l. c. S. 83). Die Seele träumt auch im tiefsten Schlafe (ib.). Die Centrale des Denkens fehlt (l. c. S. 84). Nach HÖFFDING fehlt im Traume die feste Concentration der Aufmerksamkeit und die allseitige Controlle des Denkens (Psychol. S. 105). WUNDT erklärt: »Die Vorstellungen des Traumes gehen jedenfalls zum größten Teil von Sinnesreizen, namentlich auch von solchen des allgemeinen Sinnes aus, und sie sind daher zumeist phantastische Illusionen, wahrscheinlich nur zum kleineren Teil reine, zu Hallucinationen gesteigerte Erinnerungsvorstellungen. Auffallend ist außerdem das Zurücktreten der Apperceptionsverbindungen gegenüber den Associationen, womit die oft vorkommenden Veränderungen und Vertauschungen des Selbstbewußtseins, die Verwirrungen des Urteils u. dgl. zusammenhängen. Das Unterscheidende des Traumes von andern ähnlichen psychischen Zuständen liegt übrigens weniger in diesen positiven Eigenschaften, als in der Beschränkung der Erregbarkeitserhöhung auf die sensorischen Functionen, während die äußeren Willenstätigkeiten beim gewöhnlichen Schlaf und Traum vollständig gehemmt sind. Verbinden sich die phantastischen Traumvorstellungen zugleich mit Willenshandlungen, so entstehen die im ganzen seltenen, bereits gewissen Formen der Hypnose verwandten Erscheinungen des Schlafwandelns. Am häufigsten kommen solche motorischen Begleiterscheinungen beschränkt auf die Sprachbewegungen, als Sprechen im Traume, vor« (Gr. d. Psychol.5, S. 330. Grdz. d. physiol. Psychol. II, C. 16). Vgl. die Arbeiten von LÉLUT, A. LEMOINE, MAURY, Le sommeil et les rêves, 1878. vgl. TISSIÉ, Les rêves, 1890. RABIER, Psychol. p. 654 ff.. DELAGE, Ess. sur la théor. du rêve, Rev. scient. Tom. 48, 1891, p. 41 ff.. MAUDSLEY, Die Physiol. u. Pathol. d. Seele, 1870. SULLY, Die Illusionen, 1884. SIEBECK, Das Traumleben der Seele, 1877. VOLKELT, Die Traumphantasie, 1875. L. STRÜMPELL, Die Nat. u. Entsteh. d. Träume, 1874. P. RADESTOCK, Schlaf u. Traum, 1879. H. SPITTA, Die Schlaf- u. Traumzustände der menschl. Seele2, 1883. M. GIESSLER, Aus den Tiefen des Traumlebens, 1890. WEYGANDT, Entsteh. d. Träume, 1893. die Arbeiten von S. FREUD, S. DE SANCTIS (I sogni 1899) u. a.. DESSOIR, Gesch. d. Psychol. I2, 493 ff.[520]

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 518-521.
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