Rechtsphilosophie

[498] Rechtsphilosophie oder philosophische Rechtslehre heißt die Wissenschaft, welche das Wesen, den Ursprung und die Autorität des Rechts untersucht. Zwar ist alles Recht geschichtlich entstanden, und es kann den Anschein haben, als ob es hier nur aus der Willkür des Mächtigen, dort nur aus der Übereinkunft der Parteien, anderswo nur aus Sitten und Gewohnheiten hervorgewachsen sei. Aber bei tieferer Untersuchung erweist sich das Recht als ein natürliches Erzeugnis der menschlichen Entwicklung, und daher läßt sich die Frage nach den allgemeinen Grundlagen des Rechts nicht abweisen. Es gibt also nicht nur eine Geschichte der Entwicklung des Rechts, sondern auch eine Rechtsphilosophie, und man darf heutzutage, wenn auch nicht mehr von einem Natur- oder Vernunftrecht, so doch von natürlichen Prinzipien und Grundlagen des Rechts reden. In jedem Menschen entwickelt sich ein Gefühl für Rocht und Unrecht; Beleidigungen und Mißhandlungen Unschuldiger werden selbst von Unbeteiligten als Unrecht empfunden. Auch nimmt jeder für sich das Recht in Anspruch, die Berechtigung der einzelnen Gesetze zu prüfen; er sucht also nach Rechtsprinzipien. Kein Gesetz besäße überhaupt Autorität, wenn es nicht zuletzt auf irgend eine Weise zu rechtfertigen wäre. Zur letzten Begründung des Rechtes kann man von verschiedenen Prinzipien ausgehn, entweder vom Begriff der äußeren Freiheit, welche jeder einzelne in Anspruch nimmt (wie Kant), oder vom Begriff des Sittlichen, das durch die Gesetzgebung geschützt werden soll (Platon), oder vom allgemeinen Nutzen (Bentham); je nach diesen Prinzipien wird auch der Umfang des Staates und sein Verhältnis zu den sozialen und geistigen Sphären, zu Familie, Kunst, Wissenschaft usw. verschieden bestimmt werden.

Die Idee des Rechts leitet sich z.B. aus der Idee der Freiheit so ab : Jeder Mensch verlangt äußere Freiheit, d.h. die uneingeschränkte Macht, zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Daraus folgt, daß er aber auch die Selbstbestimmung der anderen respektieren muß; folglich kann er vernünftigerweise nur ein beschränktes Freiheitsrecht begehren. Der dadurch erzielte Stand des Friedens ist die Idee des Rechts; sein Begriff ist die Regel, welche jene Idee, d.h. die Harmonie der äußeren Freiheit aller, verwirklicht, – Diese Regel muß[498] eine vernünftige und objektive, d.h. zur allgemeinen Anerkennung geeignete und äußerliche Geltung beanspruchende sein. Recht ist also das, was der größtmöglichen Freiheit aller entspricht. Hieraus folgt, daß jeder überall so viel Recht besitzt, als er ohne Widerspruch mit sich selbst anderen gewähren kann. So besitzt er das unbeschränkte Recht auf seine Person, seine Kräfte und Handlungen, sofern dadurch nicht einem anderen ein Zwang angetan wird. Nur an dem Recht des anderen findet das seinige seine Schranke und umgekehrt. Aus der Rechtsgleichheit aller folgt, daß auch jeder, der sich dem Rechte nicht unterwirft, dazu gezwungen werden kann. Alle solche Ableitungen aus an die Spitze gestellten hypothetischen Prinzipien haben aber etwas Willkürliches und bleiben im Allgemeinen stecken. Es ist richtiger, empirisch und historisch zu Werke zu gehn, statt mit Prinzipien anzufangen und mit Hypothesen zu schließen.

Die Entwicklung der Rechtsphilosophie reicht vom Altertum bis zur Gegenwart. Die Sophisten betrachteten das Recht als Erfindung der Klugheit und identifizierten es mit der Macht. Hippias von Elis (5. Jarhdt. v. Chr.) lehrte, das Gesetz sei ein Tyrann der Menschen und lehre sie vieles gegen ihre Natur tun (Plat. Prot. 24, p. 337 D ho de nomos, tyrannos ôn tôn anthrôpôn, polla para tên physin biazetai). Platon (427 bis 347) ordnete die Idee des Rechts den anderen Ideen als eine Grundbestimmung des Guten ein. Er suchte ihre Verwirklichung im Staate. Wie im Menschen, so besteht auch im Staate das Gute in der Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit, in der Beherrschung der Arbeitenden durch die Wissenden. Nach Aristoteles (384-322) führt das Gesetz, das in der staatlichen Gemeinschaft erwächst, als die allen gebietende Vernunft das glückliche und vernunftgemäße Leben herbei; doch sollen die Menschen nicht bloß durch Recht und Pflicht, sondern auch durch Freundschaft zusammengehalten werden. So treten uns schon im Altertum drei Standpunkte der Rechtsphilosophie entgegen: Die Sophisten verwerfen das Recht als widernatürlich ganz. Platon identifiziert es mit der Ethik, Aristoteles gründet es auf die Idee der Eudämonie. Im Mittelalter wurde das Recht im allgemeinen auf göttliche Offenbarung zurückgeführt, doch bereiten sich schon die Ideen des modernen Rechts philosophisch vor. Dies beginnt mit Hugo Grotius (1583-1645), der das Prinzip des natürlichen [499] Rechts einführt. Nach ihm ist der Bürgerstaat durch Übereinkunft aus dem Triebe nach Geselligkeit zu gegenseitiger Unterstützung und Förderung entstanden. Recht ist daher alles, was die Natur einer Gesellschaft von jedem gegen alle fordert und jedem von allen gewährt. Ähnliches lehren Pufendorf (1632-1694) und Locke (1632-1704); nach beiden soll der Rechtsstaat die Sicherheit und Freiheit schützen, die der Mensch im Naturzustande habe. Den Naturzustand dachten sich im Gegensatz zu ihnen Hobbes (1588-1679) und Spinoza (1632-1677) als einen Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes), aus dem nur durch Unterwerfung unter einen Mächtigen (Hobbes), oder durch einen Vertrag herauszukommen wäre (Spinoza). Montesquieu (1689-1755), Rousseau (1702-1778) und Kant (1724-1804) leiten dagegen das Recht aus der freien Selbstbeschränkung der Menschen ab, welche Rousseau als einen förmlichen Vertrag (contrat social) darstellte, den das erste Mal alle freiwillig annahmen. Dies ist freilich eine Fiktion. Auch Kant aber leitet aus der Idee der freien Selbstbeschränkung den Satz ab, daß die gesetzgeberische Gewalt in einem Staate nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen kann. Nach J. G. Fichte (1762-1814) ist ein vertragsmäßiger äußerer Zwang die einzig rechtmäßige Quelle der Exekutive; dabei gilt ihm als der höchste Zweck einer Regierung, sich allmählich überflüssig zu machen. Im Anschluß an eine mächtige historische Richtung, welche alle Rechtsphilosophie verwirft, erkennt dagegen Herbart (1776-1841) nur faktisches und positives Recht an, dessen Autorität auf dem Mißfallen des Menschen am Streite beruhe. Nach Hegel (1770 bis 1831) wiederum lautet das Prinzip des abstrakten Rechtes: Sei Person und respektiere die anderen als Personen! Doch stellt er diesem Vernunftrecht die Sitte und das historische Herkommen als den im allgemeinen Vertrauen lebenden Geist eines Volkes zur Seite. Schopenhauer (1788-1860) sieht in dem Unrecht den »Einbruch in die Grenze fremder Willensbejahung«, im Rechte »die Negation des Unrechts«, in der Rechtslehre ein Kapitel der Moral, das sich direkt »bloß auf das Tun, nicht auf das Leiden« bezieht. Nach Wundt (geb. 1832) ist das Recht, nicht aus willkürlicher Übereinkunft hervorgegangen, sondern ein Erzeugnis des Bewußtseins, welches in den Gefühlen und Strebungen, die durch das »Zusammenleben der Menschen erweckt werden, seine fortdauernde Quelle[500] hat« (Wundt, Log. II, S. 596). Vgl. J. H. Fichte, System der Ethik 1850. Trendelenburg, Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. 2. Aufl. 1868. Ulrici, das Naturrecht 1872. Lassen, Rechtsphilosophie 1882.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 498-501.
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