Entschädigung unschuldig Verurteilter

[841] Entschädigung unschuldig Verurteilter. Die Möglichkeit, daß ein Angeklagter unschuldig verurteilt wird, ist, da die Richter als Menschen dem Irrtum unterworfen sind, nicht auszuschließen. Das Rechtsgefühl verlangt daher gebieterisch, daß unschuldig Verurteilte möglichst entschädigt werden. Diesem Verlangen hat Deutschland teilweise Rechnung getragen durch das Reichsgesetz vom 20. Mai 1898, die Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochenen Personen betr. Hiernach können Personen, die im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen oder in Anwendung eines mildern Strafgesetzes geringer bestraft wurden, Entschädigung aus der Staatskasse des Bundesstaates, bei dessen Gericht das Strafverfahren in erster Instanz anhängig war, bez. wenn das Reichsgericht in erster Instanz zuständig gewesen, aus der Reichskasse fordern, aber nur, wenn die früher erkannte Strafe ganz oder teilweise gegen sie vollstreckt war, und nur für Vermögens-, nicht auch für ideellen Schaden (erlittene Schmach und Angst) und ferner nur für den durch die Strafvollstreckung, nicht auch für den durch etwaige Untersuchungshaft entstandenen Vermögensschaden. Außer dem Verurteilten haben anderseits aber noch Anspruch auf Entschädigung diejenigen, denen gegenüber der Verurteilte kraft Gesetzes unterhaltungspflichtig war, aber nur so weit, als ihnen durch die Strafvollstreckung der Unterhalt entzogen wurde. Jeder Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Verurteilte die frühere Verurteilung vorsätzlich herbeiführte oder durch grobe Fahrlässigkeit verschuldete, als die jedoch die Versäumung der Einlegung eines Rechtsmittels nicht gilt; und das Wiederaufnahmeverfahren muß dann die Unschuld des Verurteilten bezüglich der ganzen Tat oder bezüglich eines die Anwendung eines schwerern Strafgesetzes begründenden einzelnen Tatumstandes ergeben oder doch dargetan haben, daß ein begründeter Verdacht gegen den Angeklagten nicht mehr vorliegt. Über die Verpflichtung der Staats-, bez. Reichskasse bestimmt das im Wiederaufnahmeverfahren erkennende Gericht durch besondern, gleichzeitig mit dem Urteil zu fassenden, aber nicht zu verkündenden, sondern dem bisher Verurteilten zuzustellenden Beschluß. Der Beschluß ist durch Rechtsmittel nicht anfechtbar, und er tritt außer Kraft, wenn das Urteil aufgehoben wird. Der im Beschluß gewährte Anspruch ist binnen drei Monaten nach Zustellung des Beschlusses beim Staatsanwalt des Landgerichts, in dessen Bezirk das Urteil erging, bez. wenn das Reichsgericht in erster Instanz entschied, bei der Reichsanwaltschaft durch Antrag geltend zu machen. Über den Antrag entscheidet die oberste Landesjustizverwaltung, bez. der Reichskanzler. Gegen die Entscheidung ist Berufung auf dem Zivilrechtsweg zulässig. Die Klage ist binnen drei Monaten nach Zustellung jener Entscheidung zu erheben, und zwar ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitgegenstandes bei den Zivilkammern der Landgerichte. Bis zum Betrag geleisteter Entschädigung tritt die Staats-, bez. Reichskasse in die Rechte ein, die dem Entschädigten gegen Dritte um deswillen zustehen, weil durch deren rechtswidrige Handlung seine Verurteilung herbeigeführt war. – Nach der deutschen Militärstrafgerichtsordnung vom 1. Dez. 1898, § 465 ff., findet das obige Gesetz vom 20. Mai 1898 über E. entsprechende Anwendung auf das militärgerichtliche Verfahren. Eine Entschädigung unschuldig Angeklagter ist noch nicht Gesetz geworden. – In Österreich ist durch Gesetz vom 16. März 1892 die E. ähnlich geregelt. Vgl. Woermann, Das Wiederaufnahmeverfahren und die E. (Berl. 1899); Löwe, Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich (10. Aufl. von Hellweg, das. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 841.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: